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Die Künstlerin Suzanne Brennan Firstenberg inmitten ihrer ersten Installation, für die der Platz irgendwann zu knapp wurde.

Foto: AP / Patrick Semansky

Das Licht am Ende des Tunnels wird heller. Seit dem Höchststand Anfang Jänner ist die Zahl der Corona-Neuinfektionen in den Vereinigten Staaten beständig gefallen, auf rund ein Viertel der damals pro Tag gemeldeten Fälle. 15 Prozent der Bevölkerung haben in den USA mindestens eine Spritze bekommen. Die Regierung Joe Bidens drückt beim Impfen aufs Tempo, die baldige Rückkehr zu einem normalen Leben wird realistischer. Umso wichtiger sei es, sagt Suzanne Brennan Firstenberg, an die Opfer der Seuche zu erinnern. In Form eines Denkmals. Gerade dann, wenn das Land die Pandemie hinter sich lasse.

Weiße Wimpel für die Verstorbenen

Schon jetzt, beobachtet sie, würden die meisten über nichts anderes reden als über die Rückkehr zur Normalität. So verständlich das sei, für die Familien der Toten gelte das nicht, "für sie gibt es keine Normalität, zu der sie zurückkehren könnten". Aus Erfahrung wisse sie, sagt Firstenberg, wie schnell man in Amerika dabei sei, die Seite umzublättern, das alte Kapitel abzuhaken. Nach vorn schauen, nicht zurück: die Devise einer noch immer ziemlich jungen Republik. Gerade deshalb müsse es einen Ort der Erinnerung geben.

Deshalb rollt Suzanne Brennan Firstenberg weiße Fähnchen zusammen, um sie in Kartons zu verstauen. Eigentlich sind es Wimpel, kaum größer als ein kleines Notizheft. Dutzende Kisten stapeln sich bereits im Atelier der Künstlerin in Bethesda, einem Vorort von Washington. Irgendwann im Spätsommer sollen sie geöffnet und die Wimpel ins Gras gepflanzt werden. In der Hauptstadt, an zentraler Stelle. Wo genau, verrät Firstenberg nicht, sie verhandelt gerade mit den Behörden. Sechshundertfünfzigtausend Flaggen, schätzt sie, wird sie wohl brauchen, eine für jeden, der zwischen Seattle und Miami an den Folgen von Covid-19 gestorben ist. Vielleicht mehr, hoffentlich weniger.

Lerneffekt im Fahnenmeer

Was sie zu erreichen hofft, ist ein Lerneffekt. "Vielleicht halten wir einmal inne und fragen uns, was es eigentlich bedeutet, Amerikaner zu sein." Füreinander da sein, sich um andere kümmern, nicht nur an sich denken – so, sagt die 61-Jährige, stelle sie sich Amerika vor. "Was wir erlebt haben, muss ein Wendepunkt sein. Der ganze Egoismus, es gibt viel zu reparieren." Dass die USA weltweit die Liste der Corona-Todesfälle anführen, mit mittlerweile mehr als einer halben Million Toten, habe natürlich nicht nur mit Donald Trump zu tun, dem Schönredner der Krise, der die Gefahr noch herunterspielte, als er es längst besser wusste. "Nein, wir alle sind schuld. Wir sind schuld, weil wir unsere individuellen Rechte über das Gemeinwohl gestellt haben." Deshalb das Denkmal, der Versuch, das Leid darzustellen. Der Mensch, begründet Firstenberg, tue sich schwer damit, diese riesigen Zahlen zu verstehen. 500.000, 600.000 Opfer, das sei nun mal ziemlich abstrakt. Um zu begreifen, was es bedeute, müsse man es sehen, in Form eines Fahnenmeers.

Kein Sterben für den Dollar

Firstenberg hat in der Pharmaindustrie gearbeitet und danach im Büro eines US-Senators, bevor sie ins kreative Fach wechselte. Sie belegte einen Keramikkurs, wurde sich ihres Talents bewusst und fing an, Kunst zu kreieren. Wenn man so will, beruht die Idee mit den Flaggen auf Wut. Vor knapp einem Jahr sprach der Lieutenant-Governor von Texas, die Nummer zwei der Regierung des Bundesstaats, von den Risiken, die man eingehen müsse, um die Wirtschaft zu retten. Ältere Menschen, er eingeschlossen, müssten bereit sein, im Interesse der Ökonomie ihr Leben zu opfern. Firstenberg leistet seit 25 Jahren Freiwilligendienste in einem Hospiz. Dem Texaner hätte sie damals am liebsten die Telefonnummer ihrer in South Dakota lebenden Mutter gegeben. "Sollte er ihr doch selbst erzählen, dass sie bereit sein muss, für den Dollar zu sterben." Der Ärger mündete in das Vorhaben, jeden einzelnen Toten zu ehren.

Ein Feld voller Fähnchen: Die Zahl der Wimpel wird wohl auf eine halbe Million anwachsen.
Foto: AFP / Roberto Schmid

Würdigung statt Sternenbanner

Das Sternenbanner kam dafür nicht infrage, schon gar nicht in einem Wahljahr, wenn Politiker ihre Auftritte vor noch mehr Sternenbannern inszenieren, als sie es sonst schon tun. Firstenberg entschied sich für weiß. Die Farbe der Unschuld, in diesem Fall der Unschuld der Opfer. Aber auch die Farbe der Kapitulation. "Denn das war es doch, eine Kapitulation. Unsere Regierung hat sich ergeben, sie hat die Niederlage hingenommen." Zudem eignet sich weißer Stoff am besten, um etwas darauf zu schreiben, kurze Zeilen in Würdigung der Verstorbenen. Mitte Oktober ließ Firstenberg 219.000 Wimpel installieren, auf einer Grünfläche am Rande der Stadt, neben einer ehemaligen Kaserne der Nationalgarde, die heute als Ausstellungshalle dient. Ende November waren es 267.000 geworden, sie musste aufhören, weil der Platz nicht mehr reichte. Mittlerweile ist es ein digitales Projekt. Man kann der Künstlerin auf einer Website mitteilen, an wen man erinnern möchte. Sie überträgt es dann auf die Fähnchen, die in ein paar Monaten, hoffentlich am Ende der Epidemie, an zentraler Stelle das Gedenken symbolisieren sollen.

Persönliche Widmungen

Erick Hurtado, verstorben am 12. September 2020 in einem Krankenhaus in Fairfax, Virginia. Geboren in Chimbote in Peru, am 21. April 1980, von seinen Freunden Pucho genannt. Vater von sechs Kindern, drei von ihnen adoptiert. "Mein Engel", hat Patricia Hurtado, die Witwe, unter den Namen, das Geburts- und das Todesdatum geschrieben. Lila Althea Fenwick, geboren 1932, verstorben am 4. April 2020 in ihrer Wohnung in New York. Die erste afroamerikanische Absolventin der Rechtsfakultät der Universität Harvard, später bei den Vereinten Nationen beschäftigt, "ein Juwel von Mensch". Ein Arzt, erzählt Suzanne Brennan Firstenberg noch, habe neun Wimpel mit persönlichen Worten versehen. Zur Erinnerung an neun Patienten, die auf der Intensivstation seines Spitals dahingegangen sind. (Frank Hermann aus Washington, 26.2.2021)