Ausblick auf bessere Zeiten? Minister Anschober dämpft Hoffnungen auf ein rasches Frühlingserwachen nach der bleiernen Corona-Zeit.

Foto: Heribert Corn

Es war letzten Sonntagabend, als Rudolf Anschober seinem Ärger Luft machte. Der Gesundheitsminister empfand einen Artikel des STANDARD, der Österreichs Anti-Corona-Politik wenig schmeichelhaft mit jener Deutschlands verglichen hat, als ungerecht. Ein flüchtiger Austausch von Argumenten und Zahlen per Mail mündete in eine Interviewanfrage an den Grünen-Politiker, der ein Jahr nach Ausbruch der Pandemie einmal mehr vor einer kniffligen Entscheidung steht. Eigentlich will die Regierung kommenden Montag über weitere Lockerungen des Teil-Lockdowns – zur Debatte steht etwa eine Öffnung der Wirtshäuser – entscheiden. Doch nun steigt die Infektionsrate rasant: Am Donnerstag zählte die Statistik fast 2.400 Sars-CoV-2-Neuansteckungen, am Tag davor waren es noch 2.000.

STANDARD: Was vermissen Sie nach einem Jahr Pandemie am meisten?

Anschober: Einen freien Tag dann und wann, um mich auszuschlafen. Mit Freunden ein Bier im Gastgarten trinken, ins Kino gehen.

STANDARD: Werden Sie sich einen Gefallen tun und neue Lockerungen beschließen?

Anschober: Ich habe die gleiche Sehnsucht danach wie alle anderen. Aber die Entwicklung ist derzeit beunruhigend, die Infektionszahlen steigen stark. Je stärker der Anstieg, desto unwahrscheinlicher ist es, dass es kurzfristig zu Öffnungen kommen kann.

STANDARD: Wissen Sie denn schon genau, was die Infektionsraten so treibt?

Anschober: Die Anfang Februar gewährten Lockerungen dürften es eher nicht sein. Eine entscheidende Rolle spielt, dass die britische Mutation des Virus wie in ganz Europa auch hierzulande stark auf dem Vormarsch ist – in Ostösterreich macht diese ansteckendere Variante schon deutlich über 50 Prozent der Neuinfektionen aus. Aber ein Teil des Anstiegs ist wohl auch mit der Ausweitung der Tests zu erklären – bis Montag sollten wir wissen, wie groß dieser Anteil ist. Dann haben wir ein klares Bild.

STANDARD: Es verwundert, dass die Regierung angesichts der Lage überhaupt an Öffnungen denkt. Als die Marke von 2.000 Infektionen an einem Tag im Herbst überschritten wurde, waren wir drei Wochen später bei fast 10.000 Fällen. War es nicht schon leichtsinnig, dass Österreich überhaupt zu lockern begonnen hat?

Anschober: Meinem Eindruck nach waren Lockerungen überfällig – vor allem an den Schulen. Die Lockdowns haben sich massiv abgenützt, psychosoziale Probleme machen sich breit. Unsere Entscheidungen dürfen sich nicht nur nach den Infektionszahlen richten, sondern auch nach einer anderen Frage: Wie geht es einer Gesellschaft mit dem Lockdown? Welche Nebenwirkungen treten auf? Außerdem haben wir die Öffnungen mit einem Schutzpaket abgefedert, vom verschärften Contact-Tracing bis zum Ausbau der Massentests, die großartig funktionieren.

STANDARD: Der Infektiologe Günter Weiss, der Sie berät, sagt: Massentests helfen nicht wirklich dabei, die Infektionsraten zu drücken.

Anschober: Wir holen damit sehr wohl Menschen, die keine oder kaum Symptome zeigen, aus dem Ansteckungskreislauf heraus.

STANDARD: Aber nicht viele.

Anschober: Jeder Einzelne ist wichtig. Wenn wir diese Personen nicht rechtzeitig finden, können sie zu Multiplikatoren werden.

Anschober wehrt sich gegen den Vorwurf, die zweite Welle im Herbst unterschätzt zu haben: "Das Schwierige war, die Menschen nach dem fast normalen Sommer wieder in den Ernst der Lage zurückzuführen."
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STANDARD: Was misstrauisch macht: Die Regierung hat schon einmal, als im Herbst die zweite Welle heranrollte, die Gefahr sträflich unterschätzt. Tappt sie wieder in die Falle?

Anschober: Da widerspreche ich. Wir sind keiner Fehleinschätzung aufgesessen, sondern haben immer vor dem schwierigen Herbst gewarnt. Das Schwierige daran war, die Menschen nach dem fast normalen Sommer, der allen so gutgetan hat, wieder in den Ernst der Lage zurückzuführen. Ein Teil ist den Weg nicht mehr mitgegangen.

STANDARD: Sie haben doch am 27. Oktober, als die Infektionszahlen längst massiv gestiegen sind, selbst noch gesagt, ein Lockdown sei in Ferne. Was, wenn nicht Unterschätzung, hat Sie dazu getrieben?

Anschober: Davon, dass wir das nicht ernst genommen haben, kann keine Rede sein. Schon im Juli hat der Ministerrat auf meinen Antrag hin einen 17-Punkte-Plan zur Vorbereitung auf den Herbst beschlossen. Aber die zweite Welle hat ganz Europa mit massiver Wucht getroffen – mit einer Ausnahme: Deutschland.

STANDARD: Dort gab es diese Explosion an Infektionen nicht, auch die Rate der an Covid-Verstorbenen ist insgesamt niedriger.

Anschober: Wobei seit einigen Wochen aber nun Österreich die geringeren Todeszahlen pro 100.000 Einwohnern aufweist.

STANDARD: Was hat Österreich im ersten Jahr im Vergleich zu Deutschland falsch gemacht?

Anschober: Ich habe meinem Amtskollegen Jens Spahn selbst Rosen gestreut und gefragt. Seine Erklärung: "Wir sind, wenn es darauf ankommt, halt sehr diszipliniert."

STANDARD: Herrscht unter den Österreichern also einfach mehr Schlendrian?

Anschober: Nein. Es ist uns bei einem Teil der Bevölkerung offensichtlich zu wenig gelungen, ihn mitzunehmen.

STANDARD: Dann war es also die Regierung, die den klaren Kurs aus den Augen verloren hat. Sie hat widersprüchliche Botschaften ausgesendet, ständig neue, verwirrende Regeln aufgestellt, die selbst gesteckten Ziele ignoriert.

Anschober: In der ganzen Welt gibt es kein Land, wo keine Fehler passiert sind. Schuldzuweisungen sind das Schlechteste inmitten einer Pandemie. Danach wird es aber eine Evaluierung geben, aus der nicht nur einzelne Politiker, sondern wir alle lernen müssen. Die Pandemie ist weltweit ein laufender Lernprozess. Ich erinnere mich an Mai, als wir über die Einführung des Mund-Nasen-Schutzes diskutiert haben. In meinem Beraterstab hat die Hälfte Ja gesagt, ein Drittel Nein, wie auch die Weltgesundheitsorganisation WHO, der Rest "na ja". Da ist es schwierig, eine evidenzbasierte Entscheidung zu treffen.

STANDARD: Auch die jüngste Öffnung wirkt widersprüchlich: Einerseits ist bei privaten Treffen untertags wieder alles erlaubt, andererseits sind die Regeln in Bereichen, wo es schon scharfe Vorkehrungen gibt, sehr streng: Heimbewohner dürfen künftig zwar zweimal statt nur einmal pro Woche Besuche empfangen. Doch ist das nicht immer noch zu restriktiv, wenn die Betroffenen eh getestet oder geimpft sind und Maske tragen?

Anschober: Das ist einmal ein erster Schritt. Der wichtigste Wunsch der Bewohnerinnen und Bewohner der Altenheime ist, dass es mehr Besuch gibt. Deshalb dürfen an den beiden Tagen künftig auch jeweils zwei Menschen die Bewohner besuchen. Das wird die Situation entspannen. Aber wir arbeiten an nächsten Öffnungsschritten.

STANDARD: Ich kenne ein Paar, beide über 80, beide bereits geimpft, sie im Heim, er nicht: Die empfinden es als grausam, dass sie sich nicht öfter sehen dürfen.

Anschober: Ich verstehe das. Aber grausam war es auch, dass es in den Heimen hunderte Todesfälle gegeben hat. Dort lebt die vulnerabelste Gruppe, da kann es wahnsinnig schnell einschlagen – und wir sind noch nicht in allen Heimen mit dem zweiten Stich durch. Deshalb braucht es noch etwas Geduld und schrittweise Lockerungen. Es ist ein großer Erfolg, dass wir in den Altenheimen die Infektionen und Todesfälle sensationell verringert haben – durch die Sicherheitsmaßnahmen und die Impfungen. Dieser erste durchgeimpfte Bereich zeigt, dass die Immunisierung funktioniert.

"Ein Alleingang beim Impfpass ist sinnlos", sagt Anschober und pocht auf eine europäische Lösung: "Wir wollen ja nicht nur an den schönen Bodensee reisen."
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STANDARD: Sebastian Kurz drängt auf einen "grünen Impfpass" nach Vorbild Israels, der immunisierten Menschen die alten Freiheiten vom Reisen bis zum Restaurantbesuch zurückgeben soll. Sollte sich die EU nicht einigen, will der Kanzler einen Alleingang Österreichs. Sie auch?

Anschober: An der technischen Vorbereitung arbeiten wir schon längst. Ein solcher Pass wird die Grundlage sein, um wieder reisen zu können. Ein großes ethisches und demokratiepolitisches Thema ist aber die Frage der Anwendung des Passes: Wo ergibt er Sinn? Wo gibt’s Bereiche, die ausgenommen werden können? Da aber noch nicht einmal fünf Prozent der Bevölkerung geimpft sind, kommt diese Debatte zu früh, außerdem müssen wir wissen, ob geimpfte Menschen andere trotzdem anstecken können oder nicht. Auf jeden Fall brauchen wir eine europäische Lösung. Ein Alleingang ist sinnlos, denn wir wollen ja nicht nur bis zum schönen Bodensee reisen können.

STANDARD: Die ÖVP beschwert sich über die Wirtschafts- und Korruptionsstaatsanwaltschaft, wälzt Pläne zu deren Zerschlagung. Goutieren Sie das als Koalitionspartner?

Anschober: Die Kritik der ÖVP von außen an der Justiz ist entbehrlich. Da braucht es eine Cool-down-Phase. Unsere Aufgabe als Grüne ist es, die Justiz vor politischen Zugriffen zu schützen. Weil wir das tun, hat sich aus der Situation eine erfreuliche Dynamik ergeben. Auf unseren Druck wird es eine Bundesstaatsanwaltschaft, ein Informationsfreiheitsgesetz und eine weisungsfreie Glücksspielbehörde samt besserem Spielerschutz geben.

STANDARD: Als Koalitionspartner müssen die Grünen der ÖVP letztlich den Rücken stärken.

Anschober: Einspruch! Wir haben der ÖVP nicht den Rücken gestärkt, sondern uns klar positioniert und drei Anliegen, über die seit Jahrzehnten geredet wird, durchgesetzt.

STANDARD: Werden die Wähler den Grünen nicht allein den Umstand übelnehmen, dass sie einer Partei, die etwa auch bei den Abschiebungen von Kindern unerbittlich vorgeht, die Mehrheit beschaffen?

Anschober: Dass ÖVP und Grüne sehr unterschiedliche Parteien sind, ist nicht wirklich eine Neuigkeit. Verändert hat sich nur: Wir tragen die Konflikte jetzt transparent aus. Trotzdem gibt es tagtäglich viele gemeinsame Projekte, die gut laufen. Allein in den vergangenen Tagen: vom neuen Sozialpaket bis zur Totalreform des Glücksspiels. (Gerald John, 25.2.2021)