Marc Elsberg: "Ich glaube, an dieser Idee kann man sich nach wie vor festhalten: Die Masse der Individuen, die wir sind, kann gemeinsam Großartiges zustande bringen."

Foto: Lukas Ilgner

Mit seinem Roman Blackout landete Marc Elsberg 2012 einen Weltbestseller. Es geht darin um die Folgen eines flächendeckenden Stromausfalls. Das Buch wurde inzwischen in mehr als 20 Sprachen übersetzt, allein im deutschsprachigen Raum wurden über 1,8 Millionen Exemplare verkauft.

Auch in den folgenden Thrillern – Zero, Helix, Gier – thematisierte der 1967 in Wien geborene Autor existenzielle Probleme der Menschheit, die sich aus dem technologischen Fortschritt ergeben, etwa Genmanipulation und Designerbabys, der gläserne Mensch oder wachsende Ungleichheit.

Blackout und Zero werden derzeit verfilmt und im Laufe des Jahres im Fernsehen zu sehen sein. Am 1. März nun erscheint Elsbergs neuestes Werk, Der Fall des Präsidenten: Ein ehemaliger US-Präsident wird vom Internationalen Strafgerichtshof (ICC) wegen Menschenrechtsverletzungen bei Militäroperationen angeklagt. Der Autor empfängt uns via Zoom in seinem Wiener Domizil.

STANDARD: Nach Ihren überaus erfolgreichen Techno-Thrillern wechseln Sie nun auf die moralische Ebene. Ein Ex-US-Präsident namens Douglas Turner soll vor dem Internationalen Strafgerichtshof wegen schwerer Menschenrechtsverletzungen zur Verantwortung gezogen werden, Initialen D. T. Sicher kein Zufall.

Marc Elsberg: Nicht ganz. Interessanterweise hieß der fiktive Ex-Präsident während der längsten Zeit des Schreibens anders. Erst im letzten Moment habe ich ihn umgetauft und bin dann erst draufgekommen, dass es dieselben Initialen des – nunmehrigen – Ex-Präsidenten sind. Und ich habe mir gedacht: Warum eigentlich nicht? Wobei er ja eigentlich eine Mischung aus drei Präsidenten ist, wenn man so will, angelehnt an das Handeln der letzten drei Präsidenten, George W. Bush, Barack Obama und Donald Trump.

STANDARD: In der Realität haben sich die USA unter Trump aus ihrer Rolle als Weltpolizist inklusive menschenrechtlich fragwürdiger Militäroperationen eher zurückgezogen. Man könnte sich Ihren fiktiven Ex-Präsidenten, wie Sie sagen, auch mit den Initialen B. O. vorstellen, wenn man daran denkt, dass unter dem Friedensnobelpreisträger Barack Obama die gezielten Tötungen durch Drohnenangriffe inklusive "Kollateralschäden" massiv ausgeweitet wurden.

Elsberg: Donald Trump hat diese militärischen, eigentlich kriegerischen Akte, ob in Afghanistan, im Irak oder anderswo, vielleicht nicht offiziell forciert. Aber unter ihm haben diese gezielten Tötungen durch Drohnen, Night-Raids oder Bodenaktionen weiter zugenommen. Er hat diese unter Bush begonnene und unter Obama eskalierte Linie noch einmal ausgeweitet. Trump hat allein in seinen zwei ersten Amtsjahren deutlich mehr Drohnenschläge genehmigt als Obama in seinen ganzen acht Jahren.

STANDARD: Auf jeden Fall wäre die Anklage eines ehemaligen US-Präsidenten durch den ICC in der Realität ein unerhörter Vorgang, auch weil die Vereinigten Staaten diesen Gerichtshof nicht anerkennen, zumindest was die Anklage von US-Bürgern betrifft. Sie wollen offensichtlich zeigen, dass auch das Unvorstellbare möglich wird, wenn die Dinge eine Eigendynamik entwickeln.

Elsberg: Die USA anerkennen die Zuständigkeit des ICC für US-Bürger nicht an, arbeiten aber mit dem Gerichtshof zum Teil zusammen, wenn es um andere Fälle geht. Eigene Bürger aber würden sie gemäß dem American Service-Members’ Protection Act (ASPA) notfalls mit Gewalt befreien, sollte der ICC so weit gehen, US-Bürger verhaften zu lassen.
Halbironisch wird der ASPA ja auch The Hague Invasion Act genannt. (Den Haag ist Sitz des ICC, Anm.) Was ich zeigen will: Wenn sich jemand so etwas trauen würde, also einen Ex-US-Präsidenten anzuklagen, dann würde man über bestimmte Dinge anders reden als heute. Immerhin hat der ICC begonnen, das Vorgehen von niedrigeren Chargen etwa in Afghanistan oder im Irak zu untersuchen und trotz US-Drucks fortzusetzen. Was unter Trump zu Sanktionen wie Einreiseverbote für ICC-Mitarbeiter geführt hat.
Also, der ICC tut was, und vielleicht kommen da Dinge in Bewegung. Letztlich ist es eine Machtfrage, um die es auch im Buch geht: das große Spannungsfeld zwischen realer Macht und Rechtsprechung.

STANDARD: Das gilt ja nicht nur für die internationale Ebene.

Elsberg: Ja, zum Beispiel in Österreich: Ein Finanzminister wird erst verurteilt, wenn er nicht mehr Finanzminister ist.

STANDARD: Zur Rolle von sozialen Medien und IT inklusive Drohneneinsatzes – und damit sind wir doch wieder bei der Technologie: Im Buch wird der negative Titelheld sozusagen mit seinen eigenen Waffen geschlagen. Ist es ein realistisches Szenario, dass sich in und mit den sozialen Medien eine solche Dynamik entwickelt, dass es dann zu dem kommt, was im Buch geschieht?

Elsberg: Wir erleben es ja immer wieder. Dazu dreierlei Aspekte, die auch die Handlung im Buch bestimmen. Erstens: Elektronische Mittel helfen, den Präsidenten zu überführen. Zweitens: starke Desinformationskampagnen, die wir ja in der Realität seit Jahren erleben, zum Teil höchst professionell geführt, inklusive künstlicher Intelligenz. Und drittens das – meist kurzfristige – Aufflackern breiter Bewegungen; in der Realität am augenfälligsten zu beobachten am Arabischen Frühling vor zehn Jahren.

STANDARD: "Alles, was du tust, kann vor dem Onlinemobgericht gegen dich verwendet werden", heißt es im Roman. Andererseits wären die positiven Helden des Buchs ohne soziale Medien chancenlos. Also doch mehr Segen als Fluch?

Elsberg: Sowohl als auch. Wie bei jedem Tool kommt es darauf an, was man daraus macht, wie man es einsetzt. Auf jeden Fall haben wir durch diese Medien eine solche Beschleunigung erfahren, dass es in Wahrheit keinen Diskurs mehr gibt, sondern nur noch ein ziemliches affektives Affirmieren dessen, was da gerade passiert.
Oft wäre es gescheiter, fünf Minuten Luft zu holen und nachzudenken, bevor man einen Tweet retweetet oder irgendein Posting. Teilweise bauen die Netzwerke das inzwischen auch selber ein in die Plattformen. Dass sie etwa die Anzahl der Teilnehmer beschränken, an die man etwas weiterverteilen kann, damit es nicht zu solchen Flächenbränden kommt. Was andererseits auch verhindert, dass positive Bewegungen lawinenartig anwachsen können. Wobei: Was ist positiv? Die Ambivalenz ist nicht wegzukriegen. Ich glaube auch, dass das gut ist. Das ganze Leben ist ambivalent.

STANDARD: Selbst wenn man die sozialen Medien unter dem Strich positiv bewertet in ihren Möglichkeiten, bleibt die Tatsache bestehen, dass das Leben immer unüberschaubarer und unkontrollierbarer wird. Der Einzelne verliert immer mehr persönliche Souveränität und auch Würde, selbst wenn er sich nicht in diesen Dschungel begibt. Wir beklagen uns darüber und fordern etwa mehr Datenschutz – und geben zugleich freiwillig persönlichste Daten preis.

Elsberg: Ich würde die sozialen Medien in ihrem heutigen Zustand nicht mehr positiv bewerten. Schon der Begriff soziale Medien ist irreführend. Das sind inzwischen riesige Kontroll-, Überwachungs- und Vermarktungsmaschinen und als solche höchst problematisch. Ich habe das ja schon vor sechs, sieben Jahren in Zero problematisiert. Inzwischen ist alles noch viel schlimmer geworden. Diese ursprüngliche Idee der freien Rede für jedermann – das ist längst vorbei. Die Steuerung durch Algorithmen hat nur ein Ziel: größtmögliche Kommerzialisierung.

STANDARD: Ein Pessimist könnte zu dem Schluss kommen, dass die Menschheit mit all der wissenschaftlich-technischen Entwicklung, die Sie in Ihren Thrillern thematisieren, erfolgreich daran arbeitet, sich selber auszutricksen. Wie sehen Sie unter diesem Aspekt die Pandemie?

Elsberg: Als Brennglas, das zeigt, was in den letzten Jahrzehnten schief- oder auch richtig gelaufen ist. Ob es die wachsende Ungleichheit ist, ob es die vielfach verteufelte Globalisierung ist – die im Grunde eine gute Idee ist, wenn man etwa die Impfstoffentwicklung betrachtet. Da kann die Pandemie zum großen Gamechanger werden. Gemäß der Schockstrategie von Naomi Klein kann man in Zeiten großer gesellschaftlicher Unsicherheit besonders gut neue Systeme einführen. Wenn man denn einen Plan hat.

Marc Elsberg, "Der Fall des Präsidenten". Thriller. 24,70 Euro / 608 Seiten. Blanvalet, München 2021
Cover: blanvalet

STANDARD: Im "Fall des Präsidenten" fragt der griechische Anwalt Vassilios, einer der "Guten": "Woran sollen wir uns festhalten, wenn alles zerfällt?" Ja, woran?

Elsberg: Ich persönlich glaube nach wie vor an dieses Zusammenspiel, um das es in meinem letzten Buch Gier sehr stark gegangen ist: diese faszinierende Eigenschaft der Menschen, auf der einen Seite sehr starke Individuen hervorzubringen, die, je unterschiedlicher sie sind, umso mehr davon profitieren, dass sie zusammenarbeiten; und dass auf der anderen Seite Kooperation am wirkungsvollsten ist, wenn möglichst viele unterschiedliche Individuen zusammenarbeiten.
Ich glaube, an dieser Idee kann man sich nach wie vor festhalten: Die Masse der Individuen, die wir sind, kann gemeinsam Großartiges zustande bringen. Weder die rein individualistische Idee der westlichen Kultur noch die Konzepte, die das Individuum der Gruppe komplett unterordnen wollen, funktionieren. Nur das Zusammenspiel von beiden.(Josef Kirchengast, 28.2.2021)