Die Globalisierung hat die Ungleichheit zwischen den Ländern gesenkt, aber die Ungleichheit innerhalb von Industrienationen erhöht. Das dürfte sich ändern, glaubt Charles Goodhart, hier am Rande einer EZB-Tagung.

Foto: Imago / Thomas Meyer

Ökonomen, die zur Inflation forschen, kommen an seinen Thesen nicht vorbei. Auch in der Europäischen Zentralbank (EZB) sorgte der britische Ökonom Charles Goodhart mit seinem jüngsten Buch zur Inflation für rege Debatten.

STANDARD: Die Welt hat seit 30 Jahren so gut wie keine Inflation gesehen. Sie argumentieren, dass sich das bald ändert. Wie kommen Sie darauf?

Charles Goodhart: Das Argument ist ganz simpel. All die Kräfte, die in den vergangenen dreißig Jahren dafür gesorgt haben, dass die Inflation extrem niedrig war, wie insbesondere die demografische Entwicklung und die Globalisierung, sind dabei, sich umzukehren. Corona könnte das sogar noch beschleunigen.

STANDARD: Das müssen Sie erklären. Fangen wir bei der Demografie an.

Goodhart: Über die vergangenen drei Jahrzehnte ist die Zahl der Arbeiter, die den reichen Volkswirtschaften in Europa, Japan und Nordamerika zur Verfügung gestanden ist, enorm gestiegen. Es war die größte Angebotsausweitung dieser Art in der Geschichte. Die wichtigste Rolle hat hier China gespielt. Der Anteil der weltweiten Exportgüter, die in China erzeugt werden, stieg von etwa null Prozent im Jahr 1990 auf heute 25 bis 30 Prozent an. Ob Kleider, Elektronik oder Kühlschränke: Durch die Integration Chinas in die Weltmärkte wurden die Preise für erzeugte Waren aller Art gedrückt und niedrig gehalten. Das hat sich nicht nur in China vollzogen. Unternehmen konnten nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre Produktion genauso nach Polen, Rumänien oder Tschechien verlagern, wo ebenfalls Millionen von niedrig entlohnten Arbeitnehmern bereitstanden.

STANDARD: Hat auch Migration aus diesen Ländern eine Rolle gespielt, weil billigere Arbeitskräfte kamen?

Goodhart: Ja, aber das war nicht zentral. Dafür kommen noch andere demografische Aspekte dazu: Die Frauenerwerbsbeteiligung in den Industrieländern ist stark gestiegen, und mit den Babyboomern war eine zahlenmäßig große Generation fest am Arbeitsmarkt verankert. Wichtiger als das war aber eine andere Konsequenz der Globalisierung.

STANDARD: Und zwar?

Goodhart: Gewerkschaften haben enorm an Kraft verloren. Unternehmen konnten glaubwürdig damit drohen, ihre Produktion nach Bulgarien oder Vietnam zu verlagern, wenn Arbeitnehmer zu viel Lohn verlangten.

STANDARD: All das kehrt sich um?

Goodhart: Ja, Schritt für Schritt. In China haben gewaltige Wanderungsströme aus dem ärmeren Landesinneren in die großen Metropolen im Osten dafür gesorgt, dass stetig neue Arbeiter hinzukamen. Doch diese Wanderung ist abgeschlossen. Die Einkindpolitik Chinas hat zu einem dramatischen Rückgang der Geburtenraten geführt, selbst in China sinkt die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter bereits. Das ist in weiten Teilen Asiens ähnlich, in Osteuropa sowieso. Hinzu kommt, dass die Babyboomer beginnen, in Pension zu gehen.

STANDARD: Okay. Das Arbeitskräfteangebot geht also zurück, weshalb Unternehmen höhere Löhne bieten müssen, um noch Leute zu finden, was dann die Preise insgesamt nach oben treibt. Richtig?

Goodhart: Ja, hinzu kommt, dass die Alterung der Gesellschaft auf zusätzliche Weise die Inflation befeuern wird. Die Babyboomer haben viel Geld angespart: Wenn sie in Rente gehen, werden sie beginnen, mehr und mehr auszugeben. Aber wir werden auch als Gesellschaft mehr für die wachsende Gruppe der Alten ausgeben müssen. Es ist eine traurige Tatsache, dass neurodegenerative Erkrankungen wie Alzheimer, Parkinson und Arthritis im Alter extrem zunehmen. Bei den über 75-Jährigen leidet jeder Zweite an Demenz. Genau bei diesen Erkrankungen hat die Medizin aber kaum Fortschritte in der Behandlung gemacht. Diese Menschen werden also jemanden brauchen, der sich um sie kümmert. Eine immer größere Gruppe von Arbeitnehmern wird in der Altenpflege arbeiten müssen. Uns werden diese Arbeiter am übrigen Jobmarkt fehlen.In Japan sind es zehn Prozent der Beschäftigten.

STANDARD: Aber ist Japan nicht ein gutes Beispiel dafür, dass es auch anders kommen kann? Dort sinkt die Bevölkerungszahl und die Zahl der Erwerbstätigen schon länger. Von Inflation fehlt dennoch jede Spur.

Goodhart: Das liegt daran, dass das wahre Einzugsgebiet für die japanischen Unternehmen nicht nur Japan selbst war. Japanische Betriebe haben ihre Produktion vor allem nach China verlagert. Die wahre Arbeiterschaft, die dem Land zur Verfügung steht, ist also viel größer. Aber nicht nur das. Die Produktivität pro Arbeitnehmer ist in Japan die höchste auf der Welt, seit der Jahrtausendwende konnte Japan seine Produktivität stärker steigern, als andere Industrieländer und das wirkt auch preisdämpfend. Wir könnten von Glück sprechen, wenn wir so erfolgreich sein werden, wie es Japan in dieser Situation war.

STANDARD: Welche Rolle spielt die Pandemie in der ganzen Geschichte von den steigenden Preisen?

Goodhart: Die Globalisierung war schon vor Corona im Rückzug begriffen, denken Sie an die Handelskonflikte zwischen den USA und China. Die Pandemie hat in vielen Staaten zu der Überzeugung geführt, dass es besser ist, bestimmte, strategisch wichtige Industrieprodukte im Inland zu erzeugen. Das erzeugt ein Klima, in dem Produktionsverlagerungen in die noch übriggebliebenen Niedriglohnländer schwieriger werden. Die Pandemie hat zudem zu einer beispiellosen Ausweitung der Geldmenge geführt. Das war bisher kein Problem, weil niemand etwas ausgeben könnte. Doch das dürfte sich bald ändern.

STANDARD: Wie viel Inflation erwarten Sie, und wann kommt sie?

Goodhart: Das ist der am schwierigsten zu beantwortende Punkt. Genau weiß das niemand. Vor der Pandemie dachten wir, dass es noch eine Zeit dauern kann, bis die umgekehrten Kräfte der Demografie und jene der Deglobalisierung durchschlagen. Doch nun denken wir, dass es schneller gehen kann. In ein, zwei Jahren könnte die Inflation deutlich stärker zulegen, als es die meisten Menschen und Zentralbanker erwarten. Preisanstiege von fünf Prozent und mehr sind denkbar.

STANDARD: Aber ist das alles ein Problem?

Goodhart: Es kommt darauf an, für wen. Für schlecht ausgebildete Arbeitnehmer, die in den Industrieländern zu den Hauptverlierern der Globalisierung gehört haben, wird es eine gute Zeit. Sie werden von höheren Löhnen profitieren. Denn die Durchschlagskraft der Gewerkschaften wird steigen, wenn Arbeitskraft knapp wird. Der kapitalistische Teil unserer Gesellschaft, für den die vergangenen 30 bis 40 Jahre eine wunderbare Zeit waren, wird dagegen weniger Freude haben. Die Zeit, in der sie stetig wohlhabender geworden sind, ist vorbei. Die Ungleichheit in Industrieländern wird zurückgehen.

Die Globalisierung hat die Ungleichheit zwischen den Ländern gesenkt, aber die Ungleichheit innerhalb von Industrienationen erhöht. Das dürfte sich ändern, glaubt Charles Goodhart, hier am Rande einer EZB-Tagung.
Foto: Imago / Thomas Meyer

STANDARD: Das klingt jetzt noch nicht negativ.

Goodhart: Es gibt viele Gründe, eine höhere Inflation zu befürworten, solange sie begrenzt bleibt. Das Problem ist: Das tut sie nicht. Wenn Menschen höhere Inflation erwarten, werden sie ihr Verhalten anpassen, und das treibt dann die Inflation selbst in einer Spirale weiter nach oben, mit immer höheren Löhnen und immer teureren Produkten. Das ganze wird vor dem Hintergrund eines sehr niedrigen Wirtschaftswachstums stattfinden. Wachstum findet ja dann statt, wenn die Zahl der Arbeitnehmer steigt oder die Produktivität zulegt. Die Zahl Arbeitskräfte wird aber wie dargelegt sinken, und das Produktivitätswachstum ist langsam.

STANDARD: Allerdings gibt es doch Möglichkeiten, höhere Inflation zurückzudrängen.

Goodhart: Natürlich. Aber keiner der Wege ist angenehm. Die Notenbanken könnten die Zinsen anheben, aber das würde das schwache Wachstum weiter abwürgen. Durch die stetig steigenden Ausgaben für Altenversorgung bei geringem Wachstum werden die Schulden steigen. Um das umzukehren und die Inflation zu bremsen, könnte der Staat neue Steuern einheben. Aber das ist sehr unbeliebt und lässt sich schwer durchsetzen. Wir könnten die Alten sich selbst überlassen. Das hielte ich aber für unmoralisch. Der einfachste Ausweg ist, eine höhere Inflation zuzulassen. Der Druck auf Notenbanken wird steigen, genau das zu tun. Die Gefahr ist, dass wir in einer Welt mit kaum Wachstum, aber starken Preissteigerungen relativ lange feststecken. (András Szigetvari, 28.2.2021)