Als "verantwortungslos" bezeichnet der ehemalige schottische Premier Alex Salmond ...
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"Eine Regierung, deren Handlungsweise nicht mehr den Prinzipien von Offenheit, Transparenz und Verantwortlichkeit entspricht" – mit diesem vernichtenden Urteil über seine Nachfolgerin Nicola Sturgeon hat der frühere Ministerpräsident Alex Salmond am Freitag im schottischen Parlament den seit langem schwelenden Krieg innerhalb der Nationalpartei SNP öffentlich gemacht. Keineswegs handle es sich bei seiner Heimat, deren Unabhängigkeit von Großbritannien er anstrebt, um einen "failed state", also einen gescheiterten Staat: "Sondern Schottlands Führung hat versagt."

Das Warten hatte Monate gedauert, immer wieder war der Auftritt des 66-Jährigen verschoben worden. Am Freitag trat er gegen 12.30 Uhr endlich vor den Edinburgher Untersuchungsausschuss. Dieser untersucht die Versäumnisse von Sturgeons SNP-Regierung bei der disziplinarischen und strafrechtlichen Untersuchung angeblicher Sexualstraftaten, die Salmond in seiner eigenen Amtszeit bis 2014 begangen haben soll. Gegen die Disziplinaruntersuchung zog der frühere Ministerpräsident und SNP-Vorsitzende vor das höchste Zivilgericht des Landes und erhielt recht. Im Strafverfahren wurde er im vergangenen März in allen Anklagepunkten freigesprochen.

"Kastrierte" Spitzenbeamte

Es gehe also nicht darum, sagte Salmond in ruhigem Ton, dem aber seine Verachtung für die einstigen Parteifreunde anzumerken war, dass er selbst etwas beweisen müsse, wie Sturgeon zuletzt im Fernsehen behauptet hatte. Hingegen habe die Regierung vor Gericht eingeräumt, gegen das Gesetz verstoßen zu haben. Ebenso hätten Sturgeon und ihre Spitzenbeamten die Arbeit des Ausschusses "kastriert" durch immer neue Versuche, angeforderte Unterlagen zu verstecken. Darauf sei "viel Geld und Zeit verwendet" worden, erläuterte Salmond in seiner Eingangserklärung.

Tatsächlich hat sich die Gremiumsvorsitzende Linda Fabiani (SNP) immer wieder "total frustriert" gezeigt, weil einige der wichtigsten Beteiligten Unterlagen verweigerten oder nur zögerlich ans Parlament weitergaben. Neben der Regierung nannte sie den SNP-Generalsekretär (chief executive) Peter Murrell, im Privatleben Sturgeons Ehemann, sowie Salmond selbst.

Der charismatische Politiker genießt unter Anhängern der schottischen Eigenständigkeit beinahe so etwas wie Heiligenstatus. Nach langen Jahren des Parteivorsitzes führte er die SNP 2007 zur Regionalregierung und sieben Jahre später in die Volksabstimmung über die Auflösung der mehr als 300-jährigen Union mit England; das Referendum ging mit 45 zu 55 Prozent verloren. Enttäuscht gab der Politiker Partei- und Regierungsamt an seine Stellvertreterin Sturgeon ab.

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... das Agieren seiner Nachfolgerin Nicola Sturgeon.
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Sexualverbrechen zur Last gelegt

Vier Jahre später legten dem früheren Ministerpräsidenten Mitarbeiterinnen der Regierungszentrale Sexualverbrechen bis hin zur versuchten Vergewaltigung zur Last. Was Straftaten anging, beteuerte Salmond stets seine Unschuld, räumte aber vor Gericht ein, er habe sich womöglich nicht zu allen Zeiten völlig korrekt verhalten gegenüber den Frauen in seinem Umfeld. Die Geschworenen glaubten ihm und sprachen ihn in allen Anklagepunkten frei.

Sturgeon soll kommende Woche im Ausschuss verhört werden. Heftiger Kritik durch die Oppositionsparteien antwortete sie am Donnerstag mit einer Verteidigungslinie, die einen Vorgeschmack auf ihren Auftritt geben dürfte. Eisig warnte die Regierungschefin, 50, vor einer "Politik der verbrannten Erde" und vor Verschwörungstheorien, mit denen "die Integrität der unabhängigen Institutionen dieses Landes beschädigt" würden.

Dummerweise hat das Vorgehen ihrer eigenen Regierung und Partei sowie der überwiegend SNP-nahen Spitzenbeamten in Edinburgh zur Beschädigung beigetragen. Da weigerte sich der SNP-dominierte Ausschuss zunächst, Salmonds schriftliche Erklärungen vor seinem persönlichen Auftritt in Gänze zu veröffentlichen, wie es auf der Insel gang und gäbe ist. Begründet wurde dies mit dem Identitätsschutz für jene Frauen, die den damaligen Ministerpräsidenten sexueller Übergriffe bezichtigt hatten. Erst nach gerichtlicher Intervention gab der Ausschuss zähneknirschend Salmonds Begehren nach und stellte seine Erläuterungen ins Internet – nur um einen Tag später, dem Protest der Anklagebehörde COPFS folgend, entscheidende Stellen zu schwärzen.

Unentschuldigtes Fehlen

Von der Opposition vors Parlament gezerrt, behauptete COPFS-Chef (Lord Advocate) James Wolffe, er sei an der Entscheidung nicht beteiligt gewesen. Da habe der Lord Advocate "unentschuldigt gefehlt", höhnt Lord Charles Falconer, einst Labour-Justizminister. Das Amt als Lord Advocate erfüllt eine merkwürdige Zwitterfunktion, nämlich neben der Leitung der Anklagebehörde auch die Rechtsberatung der schottischen Regierung. Deshalb nimmt Wolffe an der Mehrheit der Sitzungen des SNP-Kabinetts teil, was seine parteipolitische Neutralität infrage stellt.

Ob das Edinburgher Spektakel der SNP und deren Anliegen der schottischen Unabhängigkeit schadet? Darauf hofft in London die konservative Regierung des britischen Premierministers Boris Johnson, die seit Monaten zwischen Zuckerbrot und Peitsche für die unruhige Nordregion des Landes schwankt. Knapp zwei Monate vor der Regionalwahl Anfang Mai bleiben Sturgeons Umfragewerte hervorragend, weiß der Politikprofessor John Curtice von der Glasgower Strathclyde-Universität, aber: "Das größte Risiko für ein gutes Abschneiden der SNP ist die SNP selbst." (Sebastian Borger aus London, 26.2.2021)