Noch ist völlig unklar, ob man die Frühlingssonne in den Gastgärten wird genießen können.

HELMUT FOHRINGER

Wien – Rein statistisch gesehen sind die Voraussetzungen für mehr Lockerheit in naher Zukunft denkbar schlecht: Der neue Sonntagsrekord mit 2.123 Neuinfektionen wiegt schwer. Und auch der weitere Blick zurück lässt wenig an Dramatik vermissen: Bei der Öffnung des gesamten Handels und der körpernahen Dienstleister sowie bei der Wiederaufnahme des Präsenzunterrichts in den Schulen vor gut drei Wochen wurden täglich rund 1.000 Neuinfektionen verbucht. Die Sieben-Tage-Inzidenz pro 100.000 Einwohner lag damals noch bei knapp über 100 – mittlerweile liegt diese bei fast 150.

Frühlingsgefühle

Vor diesem schwierigen Hintergrund kommen am Montag Regierungsvertreter und Gesundheitsexperten zu einem weiteren Corona-Gipfel zusammen. Entschieden soll über mögliche konkrete Öffnungsschritte werden – und wie die Austria Presse Agentur berichtet, will sich die Politik auch von den steigenden Zahlen nicht von diesen Überlegungen abhalten lassen: Aus Regierungskreisen sei zu vernehmen, dass es eine regional unterschiedliche Vorgangsweise geben soll.

Demnach dürfe sich Vorarlberg als eine Art Testgebiet Hoffnung auf Lockerungen machen: Mit 72,8 Fällen pro 100.000 Einwohner am Sonntag ist die Sieben-Tage-Inzidenz dort so niedrig wie in keinem anderen Bundesland, allerdings ebenfalls mit steigender Tendenz. Unter 100 liegt sonst nur noch Tirol, während sich Niederösterreich und Wien hingegen bereits der 200er-Marke annähern. Diesen Wert hatte die Ampelkommission als kritische Grenze definiert, ab der Öffnungsschritte sogar wieder zurückgenommen werden sollten.

Schwieriger Spagat

Für die Regierung, die ihre Entscheidung am späten Nachmittag kundtun will, gilt es einen Spagat zu meistern, der größer im Moment wohl kaum sein könnte: Der Druck unterschiedlichster Interessengruppen in Richtung deutlicher Entschärfung ist so hoch wie wohl noch nie in den letzten Monaten. Selbst die sonst so vielgelobte Geschlossenheit in den türkisen Reihen zeigt deutliche Lücken auf. Und letztlich ist unübersehbar, dass sich innerhalb der Bevölkerung immer mehr eine Lockdown-Müdigkeit breitgemacht hat. Die Frühlingsgefühle steigern den Wunsch nach Nähe und fördern die Distanz zu neuerlich harten Regierungsmaßnahmen.

Auf der anderen Seite ist beim Gipfel ein medizinisches Expertenteam vertreten, bestehend etwa aus der Virologin Dorothee von Laer, der Epidemiologin Eva Schernhammer und dem Vizerektor der Med-Uni Wien Oswald Wagner, das nur wenig von einer allzu raschen Öffnung hält. Auf eine Prognose wollte man sich von politischer Seite daher im Vorfeld nicht einlassen. Nur so viel: Man wolle nichts "leichtfertig aufs Spiel setzen".

Grafik: Standard

Neuer Drang

In der linken Ecke: jene, die eine deutliche Lockerung der Corona-Maßnahmen als längst überfällig betrachten. Und deren Zahl ist insbesondere in den letzten Tagen beträchtlich gestiegen. Vor allem auf politischer Ebene wurden die Rufe nach mehr Freiheit immer lauter – auch über Parteigrenzen hinweg. Während SPÖ-Bundeschefin Pamela Rendi-Wagner zuletzt Öffnungsschritte äußerst skeptisch beurteilt hatte, pochte die oberösterreichische SPÖ-Vorsitzende Birgit Gerstorfer am Freitag auf Öffnungen, die Menschen würden es nicht mehr aushalten. Das "Medikament Lockdown" habe aufgehört zu wirken, man brauche wieder eine gewisse Lebensqualität.

Perspektivenwechsel

Unterstützung kommt diesbezüglich vom roten Parteikollegen Hans Peter Doskozil. Der burgenländische Landeshauptmann plädiert für einen Kurswechsel weg von Lockdowns hin zu Massentests.

Doch auch auf schwarz-türkiser Seite will man schon bald wieder am Wirtshaustisch Platz nehmen können. So hat sich etwa Oberösterreichs Landeshauptmann Thomas Stelzer für eine baldige Öffnung von Gastronomie, Tourismus und Kultur ausgesprochen. Künftig solle weniger das Herunterfahren, sondern mehr das Testen die Antwort auf die steigenden Infektionszahlen sein, so sein Ansatz, denn: "Die Menschen brauchen eine Perspektive." Applaus kam dafür dann auch von Niederösterreichs Landeschefin Johanna Mikl-Leitner.

Vor allem aber macht die Wirtschaft massiv Druck und fordert etwa, die Gastronomie mit Eintrittstests zu öffnen. Dazu kommt die gesamte Kulturwelt, die jetzt mit Nachdruck das Rampenlicht sucht und nach Monaten wieder ihre Arbeit aufnehmen will. Nicht zuletzt drängen die Sportorganisationen auf Lockerungen im Amateur- und Freizeitbereich.

Alter Zwang

In der rechten Ecke: jene, die befürchten, dass im unbeschwerten Frühlingstaumel die Aerosole Oberhand gewinnen und vor allem angesichts der Mutationen die Zahl der Neuinfektionen massiv steigen.

Die Epidemiologin Eva Schernhammer etwa wird der Regierung am Montag dringlich empfehlen, vorerst keine Lockerung der Corona-Maßnahmen einzuleiten. Die Situation sei "sehr komplex", es sei nicht möglich, die weitere Entwicklung vorherzusagen. Weitere Öffnungen könne man nur bei stabilen Infektionszahlen und der Gewissheit ankündigen, "dass das auch so bleibt" und sich nicht durch das Abgehen von Maßnahmen verschlechtere.

Kaum Spielraum

Um ein Öffnungsdatum zu nennen, bräuchte man einen "ziemlich guten Polster an Sicherheit". Den werde man aber wohl nur durch die Impfungen erreichen, ist die Expertin überzeugt. "Man kann schwer Sicherheit geben, obwohl man das sollte." Man könne der Regierung aktuell nur empfehlen, mit der Ankündigung von Lockerungen zuzuwarten. "Wir können froh sein, wenn das, was offen ist, offen bleiben kann."

Nicht jetzt unbedacht auf die Überholspur zu wechseln, empfiehlt auch Bernd Lamprecht, Vorstand Lungenheilkunde am Kepler-Uniklinikum. Der Linzer Spezialist setzt vielmehr auf den Zeitfaktor: "Es ist sicher besser, mit etwaigen Öffnungsschritten noch einen Monat zu warten."

Unbegleitete Öffnungen gäben die Zahlen nicht her, warnte auch der Simulationsforscher Niki Popper im Ö1-"Morgenjournal": Wenn es Öffnungen geben soll, müsse sich die Regierung die Frage stellen, was man gleichzeitig tun könne, um die Infektionsraten zu drücken. Einer Illusion dürften sich all jene, die nach Lockerung rufen, jedenfalls nicht hingeben: Dass die Zahlen nur wegen der vielen Tests stiegen. "Das allein ist es nicht", sagt Popper. Außerdem seien die Massentests, bei denen Österreich tatsächlich "extrem gut" sei, nur dann von Erfolg gekrönt, wenn die Kontaktpersonen in der Folge auch schnell isoliert würden.

Generell prognostiziert der Experte: Nach Ostern werde die Lage weit besser sein, wenn Österreich aus der jetzigen Situation gut rauskomme.

Die Ampel-Kommission warnt nicht nur vor Öffnungsschritten, sondern empfiehlt sogar die Rücknahme von Lockerungen, sollte der Trend anhalten. In der Corona-Ampel stehen mittlerweile wieder acht Bundesländer auf Rot, nur Vorarlberg ist orange. Der Osten (Wien, Burgenland, Niederösterreich), der vorübergehend gute Zahlen hatte, gilt mittlerweile mit starken Zuwächsen wieder als Problemzone. (Markus Rohrhofer, 1.3.2021)