Der Tschirgant, vom südlich gelegenen Ötztal aus gesehen: In der Mitte befindet sich die markante Weißwand. Es ist jener Bereich, in dem sich bei einem Bergsturz vor 3000 Jahren hunderte Millionen Kubikmeter Fels lösten und die Landschaft am Fuß des Berges nachhaltig prägten.
Foto: Wikimedia Commons / Haneburger

Dort, wo das Tiroler Ötztal in das Inntal mündet, trifft man auf eine – für den hiesigen alpinen Kontext – recht ungewöhnliche Landschaft. Hier, im offenen Terrain der Tälerkreuzung, ist das Forchet zu finden – ein artenreiches Waldgebiet, das sich über eine stark strukturierte, landwirtschaftlich kaum interessante Hügellandschaft erstreckt. Der lichte Wald mit seinen Kiefern, Schneeheide-Gewächsen, Wacholdersträuchern und Orchideen steht seit 2009 teilweise unter Naturschutz.

Das Naturjuwel hat eine besondere Entstehungsgeschichte. Hier brachen einst bei einem gigantischen Bergsturz etwa 240 Millionen Kubikmeter Fels aus den Mauern des Tschirgant-Massivs. Im Tal breitete sich das Material auf einem Ablagerungsgebiet von mehr als zwölf Quadratkilometern aus – dort, wo sich heute das Forchet erstreckt. Die Abbruchstelle, später Weißwand genannt, wurde zum prägenden Merkmal der Südseite des Tschirgant.

Neue Flussläufe

Ursprünglich hat man angenommen, dass sich der Bergsturz am Ende der Eiszeit vor 10.000 Jahren ereignete, als die sich zurückziehenden Gletscher die Felshänge freigaben. Datierbare Holzreste, die man unter dem Bergsturz fand, machten aber klar, dass das Ereignis nur etwa 3000 Jahre zurückliegt. Es ist davon auszugehen, dass auch Ötz und Inn, die hier zusammenfließen, durch die Sturzmasse gestaut wurden und sich neue Flussläufe gruben.

Eine neue Studie von Geologen der Universität Innsbruck konnte nun die Ursache für das Ereignis am Tschirgant sowie für Bergstürze im benachbarten Haiming, am Fernpass und am Eibsee identifizieren: Die Bergflanken wurden sehr wahrscheinlich durch Erdbeben instabil, die mit Magnituden zwischen 5,5 und 6,5 auf der Richterskala eine für den Alpenraum sehr hohe Stärke aufwiesen. Bisher wurden auch Klimaveränderungen als Hauptauslöser erwogen.

Hydroakustisches Messsystem

Um mehr über die Bergstürze herauszufinden, schauten Patrick Oswald, Michael Strasser und Jasper Moernaut vom Institut für Geologie der Uni Innsbruck sowie die Christa Hammerl von der Zentralanstalt für Meteorologie und Geodynamik (ZAMG) – einer Forschungsstelle des Wissenschaftsministeriums – nicht etwa hinauf auf die Berge, sondern tief in die Tiroler Seen.

Bohrinsel im Kleinen: Die Geologen entnahmen meterlange Bohrkerne aus dem Seeboden des Plansees und des Piburger Sees in Tirol.
Foto: Universität Innsbruck / Moernaut

"Mit unserer Studie wurde zum ersten Mal in Tirol mit limnogeologischen Methoden auf prähistorische Erdbebenereignisse geschlossen, die Seen also aus der Perspektive der Geowissenschaften untersucht", betont Oswald. Die Erkenntnisse wurden vor kurzem im Fachjournal "Nature Communications" publiziert.

Wie kann man an den Tiroler Seen ablesen, ob vor Jahrtausenden ein Erdbeben stattgefunden hat? "Wir haben zuerst sogenannte bathymetrische Karten angefertigt, die die Topografie des Gewässerbodens abbilden", sagt Oswald.

Mit einem Boot, das mit einem hydroakustischen Messsystem – also per Schallwellen – den Boden abtastet, wurden die beiden untersuchten Gewässer, der Piburger See und der Plansee, abgefahren. "Verändert man die Frequenz des akustischen Signals, kann man dabei auch die Schlammschichten unter dem Seeboden erfassen", sagt der Geologe.

Sedimentschichten

Auf dem Boden der Seen lagert sich kontinuierlich Sedimentmaterial ab, Jahr für Jahr eine dünne Schicht. Diese Schlammschichten waren für die Forscher von besonderem Interesse. "Wenn die Erde bebt, dann verformen sich auch diese Seesedimente. Ihre Schichtung wird plötzlich unregelmäßig – es gibt beispielsweise Unterwasserrutschungen", schildert Oswald. "Genau nach diesen veränderten Ablagerungen suchen wir. Wenn sie an verschiedenen Orten im See zur selben Zeit auftreten, muss ein externer Auslöser dafür verantwortlich sein – wie ein Erdbeben."

Die Sedimentstruktur wird auch anhand von Bohrkernen untersucht, die aus dem Seeboden gezogen werden. Acht Meter dieser Sedimentkerne wurden für die Studie analysiert – sie bilden die vergangenen 10.000 Jahre ab.

Der Hauptautor der Studie, Patrick Oswald von der Arbeitsgruppe für Sedimentgeologie, bei der Untersuchung eines Bohrkerns aus dem Plansee.
Foto: Universität Innsbruck / Moernaut

Per Computertomografie wird in diese Bohrkerne "hineingeschaut", um interessante Strukturen zu identifizieren. Datiert werden sie per Radiokarbonmethode. Je nach Beschaffenheit des Seebodens müssen die Forschungsansätze jedoch stark variiert werden. Zudem müssen andere externe Faktoren abseits der Erdbeben – etwa Hochwässer – mühsam ausgeschlossen werden.

Als die Geologen schließlich Bergsturz- und Erdbebenzeitpunkte verglichen, waren sie erstaunt, wie gut die Daten zusammenpassen: "Wir haben nicht nur eine starke zeitliche, sondern auch eine räumliche Korrelation", betont Oswald.

Die Daten des Piburger Sees deuten auf ein starkes Erdbeben vor etwa 3000 Jahren hin. Auf diese Zeit sind auch die Bergstürze am nahegelegenen Tschirgant und in Haiming datiert. Die Daten aus dem Plansee zeigen hingegen ein Beben vor etwa 4100 Jahren, was mit den Bergsturz-Datierungen am Fernpass und am Eibsee zusammenpasst.

Zehn starke Beben

Insgesamt konnten die Geologen zehn Beben ausmachen, deren Magnitude stärker als 5,5 auf der Richterskala war – allesamt in prähistorischen Zeiten. Gleichzeitig konnten sie in den Daten auch ein zeitlich viel näher liegendes Starkbebenereignis "sehen" – jenes von Namlos im Bezirk Reutte im Jahr 1930, das auf eine Richter-Magnitude von 5,3 kam. Der Horizont für vergangene Beben konnte somit von den letzten 800 bis 1000 Jahren, für die historische Aufzeichnungen bestehen, auf 10.000 Jahre ausgeweitet werden.

Für die Geologen geht es nun darum, weitere Seen, etwa in Oberösterreich und Kärnten, zu untersuchen. Man hofft, dass die neuen Daten auch in die Berechnung einer künftigen Erdbebengefährdung eingehen. Die bisher berechnete Wahrscheinlichkeit für ein Beben ab Stärke 5,5 in Tirol in den nächsten 50 Jahren liegt bei etwa zwei Prozent – ein geringfügig kleinerer Wert als jene zwei bis vier Prozent, die die Geologen aus den Seedaten ableiten.(Alois Pumhösel, 7.3.2021)