Ja eh: Draußen ist besser. Immer. Und lustiger. Und sozialer. Leider eben nur in Zeiten, in denen man nicht nur virtuell sozial sein darf.

Aber als wir unlängst das erste Mal zu zehnt an Mont Saint Michel und kurz darauf an den Menhiren und Dolmen der Bretagne vorbeizogen, als debattiert wurde, wieso die Dinger "Hinkelsteine" heißen und irgendwer – als die Landschaft bläulich wurde – fragte, ob Lavendel nicht eher in die Provence als die Bretagne gehöre, war es wie früher. Beinahe. Das Rudel war wieder beisammen. Es fühlte sich echt an. Fast.

Vielleicht ja auch, weil wir gar nicht mehr wirklich wissen, wie es ist, tatsächlich im "Packel" durch die Landschaft zu fliegen. Schlimm genug. Aber wenn und solange das nicht geht, rettet mich das Gummiband.

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Das Gummiband ist eine Mogelpackung. Dazu später mehr. Manchmal reißt es auch. Dann fährt man plötzlich in zwei oder drei Kleinrudeln durch Frankreich, London, Innsbruck, New York oder vom Vulkan hinunter in die watopische Wüste. Egal was man dann tut, verhindert es dann, dass das Rudel wieder zusammenkommt – außer alle bleiben stehen. Nur tut das natürlich keiner: Irgendwer strampelt immer.

Wenn man dann beim Support fragt, was das soll, kommen meist – höflich – die Standardausreden aller Supportmenschen, die nicht sagen dürfen (oder wollen), dass sie keinen Tau haben: "Are you all using the latest Version?", "Ah, das ist ein iOS-Thema", "Das liegt an der Firmware deiner Rolle, klär das mit dem Tacx/Wahoo/Wasauchimmer-Support", "Hast du zu wenig Bandbreite?", "Hm, ein 'Layer-8-Error'. Wir melden uns."

Gerade so, als wäre "Helpdesk" nicht eine Sprache, die Sie und ich längst fließend in Wort und Schrift beherrschen. Wahrscheinlich besser als Englisch.

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Aber vermutlich sollte ich kurz erklären, worum es hier überhaupt geht. Auch wenn mittlerweile über acht Millionen Menschen Bürgerinnen und Bürger des virtuellen Rennradkontinents Watopia sind, trifft man sogar in meiner Welt immer noch auf Leute, die bei "Zwift" oder "Rollentrainer" weder glücklich lächeln noch verächtlich "Warmduscher" sagen – und natürlich auch keine Meinung zum Gummiband haben, sondern ahnungslos sind.

Die Sache ist die: Ich bin Warmduscher – und stehe dazu. Auch wenn ich das Fahrrad ganzjährig und bei fast jedem Wetter als Verkehrsmittel nutze, habe ich am Rennrad genau null Lust auf echte Kälte, Graupelschauer, böigen Eiswind, Rutscherei und einen Pökel-Mix aus Solelösung und Schotterbeschuss von unten. Rennräder kommen bei mir auf die "Rolle". (Und wenn das Wetter passt, Umbau und Zeit aber dagegen sprechen, stell ich das Teil auf den Balkon.)

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Rollentrainer sind Heimfahrräder. Das erklärt zwar die Grundidee, ist aber in etwa so präzise wie die Gleichstellung von Waffen- und TT-Bikes (also Zeitfahrrädern). Denn moderne, "smarte" Rollentrainer sind mehr. Über sie lassen sich Radfahren und -training minutiös und wattgenau steuern. Und wenn man die Dinger mit "dem Internet" verbindet, werden sie zu Spielkonsolen: Plattformen wie Zwift sind nix anderes als Online-Gaming-Zonen. Statt in den Händen ist der Controller an den Füßen – und statt anderer Menschen (oder deren Avataren) schießt man höchstens sich selbst ab. Das dafür alles andere als virtuell: Zwiften ist das Resultat einer "bsoffenen Gschicht" zwischen einem Hometrainer und einer Playstation.

Und der Lockdown löste eine globale Migrationsbewegung gen Watopia – eine der Zwift-Welten – aus, die im wirklichen Leben politisch unappetitliche Reaktionen hervorrufen würde.

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Allerdings sind es nicht die Armen und Hoffnungslosen, die gen Watopia ziehen: Die Hardware – also die Rolle – kostet, der Aufenthalt, also das Fahren via App in Watopia, auch. Und ganz abgesehen vom Rennrad wird das, was man für Rolle und all den Tech-Firlefanz, der sich in den meisten sogenannten "Paincaves" dann oft in recht kurzer Zeit ansammelt, ganz rasch vierstellig-teuer.

Darüber könnte man jetzt lästern. Aber seien wir ehrlich: Es handelt sich weder um Grundnahrungsmittel noch um medizinische Grundversorgung oder Bildung für Kinder, sondern um "Wanna-Haves": Niemand muss. Und Geld für Mode, die man nicht ausführen kann, Autozubehör, das beim Einbau seinen Wert verliert, oder eben Fitnessspielzeug zu verbrennen gehört zu den wenigen heute möglichen freien Entscheidungen.

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Wobei das mit dem "freien Entscheiden" beim Rollentraining derzeit doch schwierig ist. Denn schon der Kauf eines Fahrrads hat derzeit ein bisserl was DDR-Planwirtschaftliches: Wer wirklich haben will, was er oder sie sich in den Kopf setzt, muss manchmal Wartezeiten bis ins späte Frühjahr in Kauf nehmen. Frühjahr 2022.

Bei Rollentrainern ist es nicht anders. Man nimmt, was lieferbar ist. Auf Plattformen wie Willhaben wurden im Spätherbst und Winter intensiv gebrauchte Geräte zum und über dem Neupreis angeboten – und gingen trotzdem weg.

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Ich habe meinen Kickr allerdings schon vor Corona gekauft. Als man sich die Teile noch aussuchen konnte. Nicht weil er so viel oder anders als der Tacx, den ich vorher hatte, wäre: Ich habe eine Zeitlang in zwei Städten gewohnt und auch trainiert. Mein Tacx funktionierte (und funktioniert jetzt bei einem Freund) perfekt – der Grund, das Wahoo-Teil zu behalten, war banal: Es hat einen Griff. Mit dem lässt sich das knapp 20 Kilo schwere Trum einfacher und problemloser wegräumen als Konkurrenzprodukte.

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Weil: Leise, präzise, zuverlässig und über Laptop, App, Radcomputer und (hochwertige) Laufuhren zu steuern sind die Dinger mittlerweile alle. Und die gängigen Trainingsprogramme "verstehen" und übersetzen sie auch zuverlässig: Dass vergangene Woche bei Bekannten zwei Walzen unterschiedlicher (und in diesem Text namentlich nicht aufgeführter) Hersteller unter Volllast im Wortsinn "durchbrannten", erwähne ich der Korrektheit halber (nein, niemand hat sich dabei wehgetan): Wie und warum so etwas passierte, versuchen gerade ziemlich viele Leute rauszukriegen.

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Was ich bei der Entscheidung, meinen Tacx weiterzugeben, nicht wusste, war, dass ich mich diesen Winter in den "Climb" verlieben würde – obwohl ich lange dachte, dass es wohl wenig Unnötigeres für ein Zimmerfahrrad gibt, als eine sich parallel zum sich (virtuell) ändernden Streckenprofil hebende oder senkende Vorderradstütze.

An dieser Überzeugung hat sich nix geändert: Das 500-Euro-Teil braucht kein Mensch. Aber fragen Sie mal einen Lamborghini- oder Ferrari-Fahrer beim Parkplatzsuchen, ob er mit einem Dacia im Stadtverkehr nicht genauso (nicht) zum Ziel käme: Das Teil ist einfach ein geiles Spielzeug. Ich will es nicht mehr missen. Doch als mich unlängst jemand fragte, ob der Climb sein Geld wert sei, konnte ich keine Antwort geben: Ich verwende ein Testgerät – und fürchte mich davor, irgendwann die Entscheidung zwischen Vernunft und Leidenschaft treffen zu müssen.

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Bei anderen "lustigen" Gadgets fällt mir der Verzicht leichter: Zum "Spottpreis" von 200 Euro gäbe es Ventilatoren, die sich mit der Rolle und dem Herzfrequenzsensor koppeln lassen – und den Gegenwind an das angebliche Tempo und die echte Anstrengung anpassen. Freilich: Der an Rollenradlerinnen und -radler angeblich meistverkaufte Ventilator kostet knapp mehr als ein Zehntel – und kühlt auch. Oder man nimmt – so wie ich –, was man eh schon ewig hat.

Ohne Luftzug würde (und kann) ich aber nicht fahren – und auch mit Ventilator und auch im Winter offener Balkontür sind diverse Schweißfänger (Stirnband, Handtuch am Lenker, waschmaschinenfestes Schutzdingsbums über dem Rahmen und ein Handtuch am Boden) unverzichtbar.

Ich kenne auch Menschen, die aus Überzeugung ohne Ventilator fahren. Angeblich klopfen dort die Nachbarn von unten nicht mehr wegen des Dröhnens, das alte Rollentrainer, in die man das Rad noch mit dem Hinterrad hineinspannte, in Altbau-Deckenkonstruktionen generieren, sondern wegen Wasserflecken am Plafond an …

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Das seltsamste Gadget ist aber wohl das Rollentrainerpult: Weil man beim Training – egal ob in der Gruppe oder nicht – zumindest einen Laptop oder ein Smartphone (in der Regel aber eine ganze Batterie an Steuergeräten) rund um sich hat und die Verrenkung zu Bücherregal, Bügelbrett oder anderen Borden irgendwann mühsam ist, stehen bei vielen Heimradlerinnen und -radlern Notenständer neben dem Cockpit.

Noch praktischer sind aber "Bike-Tische" mit Rollen. Das "Original" kostet grandiose 280 Euro – und das ist sogar mir dann zu viel. Trotzdem ist es oft nicht lieferbar.

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Der Kopie (hier im Bild) zum halben Preis lief ich online monatelang hinterher. Es gibt sie unter x Namen – aber nur theoretisch: weltweit ausverkauft. Ich fand sie bei einem kleinen deutschen Triathlon-Shop – und bereue mittlerweile keinen Cent, den ich dafür hinlegte. Wegen des Trainings? Auch – aber ich verwende den Tisch vor allem als Arbeitsstehpult: Etwas Besseres habe ich meinem Rücken und meinen Schultern schon lange nicht mehr gegönnt.

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Nebenbei: Falls Sie sich fragen, was man über so einen Tisch alles erzählen kann, ob und wie man zwei im Grunde idente Produkte miteinander vergleichen kann und wie hymnisch-euphorisch die Rezension eines Beistelltischchens ausfallen kann, empfehle ich Ihnen die Lektüre dieses Stückes des Doyens der Gadgetbeschreiber, DC Rainmaker. Achten Sie vor allem auf jenen Part, in dem er die unterschiedlichen Tischkompatibilitäten mit Ventilatoren erwähnt – und seinen Exkurs über ideale Luftzugausrichtungen.

Der Mann ist einzigartig.

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Aber zurück zum eigentlichen Fahren, zum Zwiften am Gummiband: Das ist nämlich neben all den Trainingsprogrammen und Regionstouren derzeit mein Lieblingsfeature hier. (Nebenbei: Ich weiß bis jetzt nicht, ob Touristiker dafür zahlen, dass Zwift Rad fahrenden Menschen lange Zähne auf schöne Bike-Gegenden macht, oder ob Zwift dafür bezahlt, diese Bilder und Impressionen verwerten zu dürfen – beides ist nämlich denkbar. Und findet – etwa im Film – auch statt. Beides. Für den letzten Bond etwa … aber ich schweife ab.)

Zurück zum Gummiband. An das kann man bei Gruppenausfahrten alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer hängen. Dann bleibt das Rudel zusammen. Und zwar egal, wie schnell oder langsam jeder oder jede da fährt. Solange man tritt, ist man dabei.

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An wem genau da Tempo und zurückgelegte Distanzen dann bemessen werden, haben wir noch nicht ganz herausbekommen – es ist aber auch egal, weil es um was anderes geht: Wir sind zusammen – und können den Rest der Welt ausblenden.

Virtuell gehören dann die schönsten Ecken der Bretagne plötzlich nur mir und meinen Freunden.

Und während wir an Mont Saint Michel, an Menhiren und Dolmen vorbeirauschen, über die Champs-Élysées brettern, als wären wir auf der letzten Etappe der Tour de France, über die Tower Bridge rollen oder den Central Park von oben bestaunen, ist all das, was uns das echte Leben, das wirkliche Erleben gerade so schwer macht, wie weggeblasen.

Da geben wir uns gemeinsam die Kante.

Und haben bei 200 Watt nicht nur Sterne, sondern auch Träume vor den Augen:

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Den Traum, endlich wieder richtig leben zu können.

Denn: Draußen, gemeinsam draußen, ist besser.

Immer.

(Tom Rottenberg, 2.3.2021)

Hinweis im Rahmen der redaktionellen Leitlinien: Der Wahoo "Climb" ist ein vom Hersteller zur Verfügung gestelltes Testgerät.

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