Frisch gedruckt und strandtauglich: "Die Linie zwischen Tag und Nacht" von Roland Schimmelpfennig.

Foto: Imago/Manfred Siebinger

Wenn es in diesem Jahr so etwas wie Strandlektüre festzulegen gälte, Roland Schimmelpfennigs neuer Roman wäre dabei. Besonders dann, wenn man Berlin-Fan ist. Und wer ist das nicht? In Die Linie zwischen Tag und Nacht hinterlegt der vorwiegend fürs Theater arbeitende Autor eine Hommage an die deutsche Großstadt und ihre Multikulti-Menschen, die es – wie es der Teufel eben will – in exquisite, in kriminelle oder in völlig kaputte Bahnen gelenkt hat. Oft überschneidet sich das. Held ist ein suspendierter Polizeibeamter um die 40, der selber nicht ganz unkaputt ist und der nach einer schweren Partynacht eine tote Frau im Brautkleid aus dem Wasser zieht und dann alles daransetzt, ihren Namen herauszufinden.

Es wird ihm am Ende gelingen, doch der Weg dorthin ist nicht von professioneller Spurensuche geprägt, sondern eher ein von drogeninduziertem Ermittlerinstinkt geleiteter Ritt durch die Schattenwelt der Stadt. Jede Droge, die je einen Namen erhielt, ist im Spiel. Wir treffen auf Tätowiergötter in Untergrundbars, besuchen gefährliche Garagenvernissagen und leiden mit am tonnenschweren Schicksal von Tommy, so der Name des Ex-Polizisten. Drama pur.

Halluzinatorische Gangart

Er hat am Kottbusser Tor vor einigen Jahren ein Kind totgefahren – ein Motiv, aus dem Schimmelpfennig bereits ein Theaterstück gemacht hat und das 2012 am Akademietheater uraufgeführt wurde (Das fliegende Kind). Danach wurde für den Ex-Polizisten alles nichtig: die Arbeit als Drogenfahnder, die Beziehung zu Katrin, ein Leben in Nüchternheit. Ordnungen ergaben keinen Sinn mehr, und er begann doppelgleisig zu fahren und für die sympathischen Personen der Drogenmafia zu arbeiten. Tommy flog auf und wartet seither auf die Anklage der Staatsanwaltschaft. Es bleibt also Zeit dafür, die Nacht zum Tag zu machen, um die Welt genau in Augenschein zu nehmen.

Auf 200 Seiten entfaltet sich so Tommys noch aus Fahnderzeiten herrührendes Netzwerk an Persönlichkeiten der Vorzeige- wie der Halbwelt: hochbegabte Freunde und ausgestiegene Bekannte, mysteriöse Clan-Chefinnen und homophobe Restaurantmillionäre. Dabei driftet er, nicht selten in halluzinatorischer Gangart, durch die Berliner Bezirke und ihre klingenden Namen Wedding, Neukölln oder Moabit, und wir (er nicht) genießen dabei deren Besonderheiten, die Lagerfeuerromantik im Trailerpark, das eindrucksvolle Fruchtsortiment im Delikatessenladen bis zur geheimnisvoll upgecycelten Industriebrache.

Krimineller Raum

Das Figurenpanorama ist berauschend: russische Mystiker, ungarische Tischtennisasse, türkische Drogendealer, japanische Hautstecher, vietnamesische Mathematikgenies. Ohne falsche Bescheidenheit forciert Schimmelpfennig einen dichten urbanen Kriminalraum, in den man soghaft hineingezogen wird. Der Roman vermittelt das Gefühl eines Stadtlebens und zugleich das versehrte Bild einer Gegenwart, in der Recht und Unrecht, Gesetz und dessen Brechung zwingend ineinandergreifen.

Wem Dominik Grafs Berlin-Fernsehserie Im Angesicht des Verbrechens, wem Martin Scorseses Thriller Departed gefallen hat, dem könnte, ja muss auch dieser kreuzbrecherische Roman gefallen. (Margarete Affenzeller, 3.3.2021)