Im Gastkommentar erläutern die Politikwissenschafter Michael Böcher und Max Krott, wieso Politiker und Politikerinnen auf mittleren Lockdowns mit höchst labilen Pandemieeffekten beharren.

Leichte Lockerungen verkündete die Regierung von Sebastian Kurz am Montag in Österreich, in Deutschland wird noch beraten.
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Seit Anfang November 2020 ertragen Bürgerinnen und Bürger in Österreich und Deutschland einen mehr oder weniger strengen Lockdown. Aufgrund neuer Mutationen und nur schleppend verlaufender Impfungen wird dieser immer wieder verlängert. Ernüchternd ist auch die Langfristperspektive: Die Lockdowns treffen auf eine labile Pandemielage, die bei Lockerungen und der Wucht möglicher Mutationen des Virus sofort wieder zu einem starken Anstieg an Infektionen führt. Eine dauerhafte Lösung wird einzig die Herdenimmunität bringen, die man sich vom in der Europäischen Union nur stotternd angelaufenen Impfprogramm erhofft oder die sich auf natürlichem Wege einstellt.

Keine Alternativen

Die Politik gibt sich zuversichtlich, den besten Weg gefunden zu haben. Die bisherige Erfahrung spricht eher dagegen: Zu wirklichen Alternativen kann sich die Politik nicht durchringen. Halbherzige, weil starke wirtschaftliche Interessen schonende Lockdowns lassen ein Ende der Pandemie nicht schnell erwarten. Ein stärkerer Fokus auf den Schutz der Risikogruppen oder regionalisiertere Ansätze wurden nicht ernsthaft erwogen. Das gescheiterte Experiment der Massentests in Österreich entmutigt. Auch ein totaler Lockdown, wie ihn China lokal mit großem Erfolg einsetzte, war für Demokratien keine ernsthafte Option. Zahlreiche Wissenschafterinnen und Wissenschafter fordern das Umschwenken auf eine "No Covid"-Strategie mit je nach Inzidenzen regionalen "grünen Zonen" für Lockerungen. An neuen wissenschaftlichen Ideen besteht kein Mangel!

Aber warum prüft die Politik nicht ernsthaft Alternativen und beharrt auf mittleren Lockdowns mit höchst labilen Pandemieeffekten? Drei Faktoren halten die Politik in der Lockdown-Falle gefangen:

· Verengung der wissenschaftlichen Beratungsbasis Diese findet statt, weil aktuell Virologen und Modellierer die Politikberatung dominieren. Dadurch werden auch wissenschaftlich seriös diskutierte Alternativen zu Lockdowns, aber vor allem politische, ökonomische, gesellschaftliche und nicht Covid-bezogene gesundheitliche Folgen, die erst mittel- und langfristig eintreten, politiktypisch ausgeblendet und deren Bewältigung auf nachfolgende Regierungen und Generationen verlagert.

· Machtpolitische Verlockung des Lockdowns Die Lockdown-Politik ist für aktive Politiker wie Bundeskanzler Sebastian Kurz sehr verlockend. Im Sinne einer autoritativen Macht, wie sie schon der deutsche Soziologe Heinrich Popitz in seinem Klassiker Phänomene der Macht beschrieb, können sich Politiker als handlungsstarke, mutige Macher inszenieren und endlich mal ungestört "durchregieren", zumal sie mit der Gesundheit des Volkes nur Gutes im Sinn haben. Wen stört da schon die Tatsache, dass Parlamente – als einzig durch den Souverän direkt legitimierte demokratische Institutionen – nach wie vor weitgehend entmachtet sind? Bürgerinnen und Bürger, so die Umfragen, sind infolge einer "Regierung durch Angst", wie sie der deutsche Politikwissenschafter Wolfgang Merkel bezeichnet, stark orientierungsbedürftig und internalisieren die Lockdown-Logik mit Zustimmung.

· Lockdown in der Pfadabhängigkeit Die Lockdown-Politik hat darüber hinaus auch noch etwas erzeugt, das die Politikwissenschaft als Pfadabhängigkeit bezeichnet: Zwar wurden im Verlauf der Pandemie in kürzester Zeit so viele wissenschaftliche Ressourcen in unterschiedlichsten Disziplinen wie noch nie aktiviert. Der dynamische wissenschaftliche Wissenszuwachs spiegelt sich jedoch nicht in politischen Maßnahmen wider. Denn im Verlauf einer Krise haben es neue Erkenntnisse schwer, relevant für politische Entscheidungen zu werden. Die Politik verharrt auf dem einmal eingeschlagenen Weg, einfach weil ein Abweichen den Glauben an die Politik zu erschüttern droht.

Die Defizitanalyse zeigt Optionen für die Umsteuerung einer Politik auf eine wirkungsvollere Pandemiebekämpfung auf. Es gilt erstens, die Wissenschaft in ihrer ganzen Vielfalt einzubeziehen, um wirksame Alternativen zu finden. Zweitens kann demokratische Kontrolle mögliche negative Folgen der Lockdown-Falle enttarnen, die Machtinteressen der Regierenden einhegen und mehr Gerechtigkeit in der Lastenverteilung einfordern. Drittens sind es gerade die kritischen und notwendigerweise "störenden" Impulse aus einer pluralistischen Gesellschaft, die den nur scheinbar unumstößlichen "Sachzwang" der Politik durchbrechen, um mittel- und langfristig aus der Lockdown-Falle zu entkommen. (Michael Böcher, Max Krott, 3.3.2021)