Im "Grauen Haus" beschäftigt sich Richterin Alexandra Skrdla mit einer ziemlich dreisten 15-Jährigen.

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Wien – Chuzpe bedeutet laut Duden "Unverfrorenheit, Dreistigkeit, Unverschämtheit". Für die Handlungen der 15-jährigen Y. ist der Begriff eigentlich eine Untertreibung. Denn die Polizei zu rufen, nachdem einem die Diebesbeute selbst gestohlen worden ist, ist nassforsch. Vor Richterin Alexandra Skrdla zeigt der Teenager auch heute noch Empathie-Defizite.

Zur Vorgeschichte: Am 9. Juli wurde gegen Y. am Landesgericht Wien ein Schuldspruch ohne Strafe wegen schwerer Körperverletzung ausgesprochen. Die spezialpräventive Lehre aus dieser Entscheidung blieb in sehr überschaubarem Rahmen. Denn bereits zwei Wochen später delinquierte das Mädchen wieder.

Besuch bei unbekanntem 18-Jährigen

Sie war am 23. Juli mit ihrer Freundin S. unterwegs, als sich eine dritte Freundin meldete und verkündete, sie könne nicht schlafen. Man traf einander bei der Hadikgasse. "Dann haben wir Kristian geschrieben", erzählt die Angeklagte. Den 18-Jährigen kannte man zwar bis dahin nur aus dem virtuellen Raum, was aber für junge Digital Natives kein Problem ist – Kristian lud die drei Mädchen zu sich nach Hause ein.

Dummerweise hatte er 35 Euro Bargeld offen herumliegen. Y. steckte die Scheine ein. "Warum?", will Richterin Skrdla wissen. "Ich weiß es nicht", antwortet die eher wortkarge Angeklagte. "Was wollten Sie mit dem Geld machen?" – "Keine Ahnung." – "Frau Y., das gibt es doch nicht. Sie müssen sich doch irgendwas gedacht haben, wenn Sie fremdes Eigentum nehmen. Wollten Sie zum Mäci?" – "Ich habe damals über meine Taten nicht nachgedacht, sondern gemacht, was mir in den Kopf gekommen ist", erwidert die Angeklagte.

Freundin leugnete

Die drei Mädchen gingen damals wieder und übernachteten bei S., am nächsten Morgen verließ die Dazugekommene die Wohnung. "S. hat gesagt, sie hat ein schlechtes Gefühl, und ich soll nachschauen, wo das Geld ist", erinnert sich die Angeklagte. Es war weg. Y. und S. liefen dem dritten Mädchen nach und erwischten es noch bei der U-Bahn-Station. Als diese leugnete, die Diebesbeute gestohlen zu haben, rief Y. die Polizei.

"Wie fühlt sich das an, wenn man abgezockt wird?", will Skrdla von der Angeklagten wissen. "Scheiße", lautet deren kurze und treffende Replik. "Und wie, glauben Sie, hat sich Kristian gefühlt, als er gesehen hat, dass seine 35 Euro weg sind?" – "Wahrscheinlich nicht so gut", gesteht Y. zu. "Das waren alles Sachen, bevor ich bei der Bewährungshilfe war", gibt der Teenager noch zu bedenken.

"Du wirst schon sehen, was mit dir passiert!"

Wie sich bei der Polizei herausstellte, hatte das dritte Mädchen das Geld aber gar nicht. Wo es geblieben ist, bleibt offen, sicher ist nur, dass S. später Kristian die 35 Euro zurückgab. Was Y. aber nicht wusste, sie ging offenbar von nachlässigen Ermittlungen der Polizei aus. Deshalb schickte sie am nächsten Tag dem dritten Mädchen eine Botschaft. Zu einem Foto von U-Bahn-Gleisen schrieb sie den Text: "Du wirst schon sehen, was mit dir passiert!"

Warum die Empfängerin sich fürchtete und sie nun auch wegen gefährlicher Drohung angeklagt ist, kann sich Y. nicht recht erklären. "Ich hatte nie vor, sie auf die Schiene zu werfen!", beteuert sie. "Dann wären wir auch zumindest wegen Mordversuchs hier", erklärt ihr die Richterin. "Aber verstehen Sie, dass sich das Mädchen bei der Nachricht gefürchtet hat?" – Y. versteht es nicht: "Ich habe einfach ein Foto gemacht, wo ich gerade war. Ich hätte genauso gut eine Wand fotografieren können" – "Wenn Sie jemanden gegen eine Wand schmeißen, passiert wahrscheinlich weniger, als wenn Sie jemanden auf Schienen werfen." – "Ich denk mir nichts dabei. Die Schienen haben keine Bedeutung", beharrt die Angeklagte. "Sie werden noch viel lernen. Sie müssen noch viel lernen, sonst wird das nichts mit Ihnen", kapituliert Skrdla.

Zufälliges Treffen im Prater

Y.s Zorn über das verschwundene Diebesgut war mit der Drohung aber noch nicht verraucht. Am 4. August waren sie und S. im Prater und liefen dem dritten Mädchen zufällig über den Weg. "Sie sollte sich entschuldigen, da sie mich hintergangen hat", erzählt die Angeklagte. "Wieso hat sie Sie hintergangen?", kann die Richterin es immer noch nicht ganz fassen. "Sie konnte bei uns schlafen und hat das Geld gestohlen. Da fühle ich mich hintergangen", erklärt ihr die Angeklagte trotzig. "Das Geld, das Sie vorher dem Burschen gestohlen haben!", stellt Skrdla klar.

Y. sagt jedenfalls, sie habe dem dritten Mädchen im Prater "eine Watsche" gegeben, da die sich nicht entschuldigen wollte. Das Mädchen schildert als Zeugin dagegen, die Angeklagte habe die 35 Euro von ihr verlangt. Als sie sich weigerte, habe sie ihr zuerst mit der Faust ein blaues Auge geschlagen, sie dann an den Haaren nach vorne gezogen und ihr das Knie in den Magen gerammt. 300 Euro will sie als Schmerzensgeld, Verteidigerin Eva Velibeyoglu und Vater Y. versprechen, die Summe zu überweisen.

"Aggressive Phase" bis August

In ihrem Schlussplädoyer merkt Velibeyoglu noch an, dass Y. von März bis August eine "aggressive Phase" gehabt habe, sie sich aber seit der Bewährungshilfe und der Einnahme von Medikamenten geändert habe. Die Bewährungshelferin bestätigt das: Y. habe mittlerweile ein Unrechtsbewusstsein entwickelt. "An der Umsetzungsstrategie arbeitet sie noch."

Skrdla verhängt schließlich eine Zusatzstrafe von zwei Monaten bedingt. Erst in der Woche davor war Y. vom Bezirksgericht Favoriten wegen einer anderen Körperverletzung am 8. August zu einer teilbedingten Geldstrafe von 160 Tagessätzen verurteilt worden. "Eine Geldstrafe wäre für alles zusammen zu wenig", begründet Skrdla ihre nicht rechtskräftige Entscheidung. (Michael Möseneder, 3.3.2021)