Im Gastkommentar fordern die Innovationsstrategin und Dozentin Julia Skobeleva und die Autorin und Texterin Dorina Marlen Heller mehr internationale Solidarität für die belarussische Opposition.

Belarus brennt. Seit der gestohlenen Wahl im August demonstrierten wöchentlich zehntausende Menschen gegen die totalitäre Alleinherrschaft von Diktator Alexander Lukaschenko. Die Demonstrierenden wurden zu Hunderten festgenommen und oftmals brutal misshandelt, gruppenvergewaltigt, zu Tode geprügelt. Die EU sieht hilflos zu. Erlässt wirkungslose Sanktionen, während die belarussische Regierung weitermacht. Wo bleibt Europas Solidarität?

In einem Interview mit der Schweizer Zeitung Le Temps sagte die exilierte Oppositionsführerin Swetlana Tichanowskaja: "Ich muss zugeben, dass wir die Straßen verloren haben." Der Grund: Das Vorgehen gegen die Demonstrierenden sei von einer unglaublichen Brutalität geprägt. Die Proteste gehen aber im Untergrund weiter und suchen sich stets neue, kreative Ausdrucksformen. Als zum Beispiel eine Gruppe von Pensionistinnen, die öffentlich belarussische Literatur vorlasen, verhaftet wurden, veranstaltete eine Gruppe junger Frauen einen Flashmob in der U-Bahn. Auch sie wurden verhaftet. Der Fall von zwei jungen Journalistinnen, die einen Protest live gestreamt haben und dafür zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt wurden, hat auch international für Schlagzeilen gesorgt.

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Protest gegen die Inhaftierung von Aktivistinnen am 14. Februar in Minsk.
Foto: AP

Ein Protest, der von Frauen getragen wird

Die Protestbewegung ist aus mehrfacher Hinsicht außergewöhnlich: Zum einen ist sie intergenerational. Auch wenn vor allem junge Leute auf die Straßen gehen, sind doch viele Ältere essentieller Teil der Protestbewegung. Die wahrscheinlich Bekannteste unter ihnen ist die 73-jährige Nina Baginskaja. Mit stoischer Beharrlichkeit geht sie jede Woche mit ihrer selbstgenähten weiß-rot-weißen Flagge der Opposition demonstrieren. Wenn Polizisten sie aufhalten wollen, sagt sie: "Ich gehe hier spazieren!" Angst hat sie keine. Auch wenn der Staat sie schikaniert, die Hälfte ihrer Rente einbehält, versucht, ihre kleine Datscha, wo sie Obst und Gemüse anbaut, zwangszuversteigern. Baginskaja, die inzwischen eine Protestikone ist, verkörpert vielleicht wie kaum jemand anderes den Geist der Revolution: unerschrocken, zäh, beharrlich.

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Die Oppositionelle Nina Baginskaja im August 2020 in Minsk.
Foto: AP / Dmitri Lovetsky

Eine weitere Besonderheit der belarussischen Protestbewegung ist die Rolle, die den Frauen darin zukommt. Frauen haben diese Welle überhaupt erst losgetreten: Es war das weibliche Trio rund um Tichanowskaja, das nach der gestohlenen Wahl das Empörungsfeuer zum Brennen brachte. Seitdem waren Frauen an der Front der Proteste. Erst stellten sie sich schützend vor Männer, um diese vor Verhaftungen und Polizeibrutalität zu bewahren, und später knickten sie selbst dann nicht ein, als die Polizei begann, auch Frauen zusammenzuschlagen und reihenweise einzusperren.

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Die Politikerinnen Tichanowskaja, Veronika Tsepkalo und Maria Kolesnikowa vor der Wahl im Juli 2020.
Foto: Reuters / Vasily Fedosenko

Unbekanntes Belarus

Davon bekommen wir hierzulande allerdings kaum etwas mit. Die Proteste sind den meisten Medien nur noch eine kurze Meldung wert. Ohne die Solidarität und Aufmerksamkeit der EU-Staaten hat die belarussische Protestbewegung aber schlechte Erfolgsaussichten. Dabei sollte die Europäische Union ein Interesse an der Demokratisierung des 9,5 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner starken Landes haben.

"Mit Kamala Harris ist zum ersten Mal eine schwarze Frau Vizepräsidentin der USA. Der Erfolg ist historisch, der Kampf um Gleichberechtigung damit aber nicht vorbei." Noura Maan und Manuel Escher über Repräsentation in der Politik.

Eine Voraussetzung, um solidarisch zu sein, ist eine grundlegende Identifikation mit der anderen Seite. Solange ich eine Gruppe als gänzlich "fremd" betrachte, ist es leicht, auch deren Probleme und Bedürfnisse zu ignorieren oder sie im schlimmsten Fall sogar abzuwerten und zu marginalisieren. Rassismus, Antisemitismus und Sexismus demonstrieren das historisch wie gegenwärtig nur allzu deutlich. Dass die Hauptstadt Minsk weniger als zwei Flugstunden von Wien entfernt oder dass Belarus ein Gründungsmitglied der Vereinigten Nationen ist, wird den wenigsten bewusst sein. Dass die deutsche Wehrmacht 1941 das gesamte Land eroberte, jeder/jede vierte Belarusse/Belarussin im Zweiten Weltkrieg ums Leben kam und fast zehn Prozent aller ermordeten europäischen Jüdinnen und Juden aus Belarus stammen, noch weniger. Diese Fremdheit ist zumindest teilweise historisch gewachsen. Die Anti-Sowjet-Propaganda im Dritten Reich, der Kalte Krieg und der Eiserne Vorhang haben ihre Spuren hinterlassen. Belarus und weite Teile der ehemaligen Sowjetunion werden in großen Teilen der Bevölkerung noch immer als "das Andere", Fremde gesehen.

Engagierte Kulturvermittlung

Um Solidarität mit unserem europäischen Quasinachbarn zu entwickeln, sind aber mehr Wissen und Verständnis erforderlich. Wie es anders gehen kann, zeigen Polen und Litauen, die seit Monaten Solidaritätsaktionen organisieren. Etwa in Form von Kulturveranstaltungen, wie Konzerten und Ausstellungen über die Freiheitsproteste in Belarus, und Öffentlichkeitskampagnen, wie Lichtprojektionen der belarussischen Flagge am Kulturpalast von Warschau oder am Präsidentenpalast in Vilnius. Eine engagiertere Kulturvermittlung und Berichterstattung, die die Gesichter und Geschichten der Belarussinnen und Belarussen zeigen, wären Schritte in diese Richtung. (Dorina Marlen Heller, Julia Skobeleva, 5.3.2021)