Kritikerinnen sehen in Sexpuppen, die schon jetzt vielfach produziert werden, eine Entmenschlichung von Frauen. Für Stoverock können sie Teil der Zukunft sein.

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Unsere Zivilisation wurde von Männern geschaffen und schließt Frauen seit Tausenden von Jahren aus, sagt die Biologin Meike Stoverock. Damit laufe das Geschlechterverhältnis gewissermaßen entgegen der Evolution. Denn im Tierreich gelte meist Damenwahl ("female choice"). Das bedeutet, dass die Weibchen den Partner wählen und bestimmen, welche Männchen sich paaren können. In der Zukunft werde auch die Menschheit zu diesem Prinzip zurückkehren, ist Stoverock überzeugt. Frauen werden mehr Macht über die Partnerwahl haben und einige Männer wohl überhaupt keine Partnerin mehr finden. Wie verändert das unsere Beziehungen?

STANDARD: Die Damenwahl gilt vor allem bei Tieren. Was hat das mit uns Menschen zu tun?

Stoverock: Eine ganze Menge. Es gibt insgesamt eine Vielzahl von Hinweisen darauf, dass die Damenwahl auch uns Menschen in den Genen liegt. Zum Beispiel treffen ein oder zwei Eizellen der Frau auf Millionen von Spermien des Mannes. Die weibliche Eizelle ist nur begrenzt fruchtbar, wohingegen männliche Spermien ständig fruchtbar sind. Ein Mann kann jeden Tag rund um die Uhr Kinder zeugen. Eine Frau hingegen hat nur ein sehr enges Zeitfenster von wenigen Stunden im Monat. Sie muss bei der Partnerwahl wählerischer und behutsamer sein.

STANDARD: In Ihrem Buch schreiben Sie, dass die Damenwahl einst auch für uns Menschen entscheidend war. Erst mit der Sesshaftigkeit vor rund zehntausend Jahren habe sich daran etwas geändert. Inwiefern?

Stoverock: Sexualität ist ein Urinstinkt, ein Grundbedürfnis, ein angeborener Trieb. Die Damenwahl führt jedoch dazu, dass ein großer Teil der Männer keinen Sex haben kann, weil ihnen die Frauen diesen verwehren. Mit der Erfindung der Landwirtschaft sicherten sich die Männer Besitz und Ressourcen. Sie hatten plötzlich ein Druckmittel gegen die wählerischen Frauen. Die Frau wurde abhängig gemacht, sodass sie sich an einen Mann binden musste.

STANDARD: Sie sehen auch die Ehe als eine Form der Unterdrückung. Aber kann sie nicht auch auf Gegenseitigkeit beruhen und beiden Partnern Vorteile und Erfüllung bringen?

Stoverock: Über die Geschichte betrachtet würde ich ganz klar sagen: Nein. Die Ehe war immer ein Werkzeug, um Frauen unselbstständig zu machen und in engen sexuellen Bahnen zu halten. Es ist keine Überraschung, dass die Pille ganz am Anfang nach ihrer Erfindung nur verheirateten Frauen verschrieben wurde. Die männliche Zivilisation spürt, dass die Ehe wichtig ist, um Frauen unter Kontrolle zu halten. Natürlich heiraten heute vor allem in den westlichen Gesellschaften immer mehr Menschen aus Zuneigung anstatt aus purer wirtschaftlicher Abhängigkeit. Aber seit vielen Tausend Jahren steht die Ehe eben auch auf unfreiwilliger Basis. Da kann man nicht sagen, die Frau hat auch etwas davon.

STANDARD: Wann und wodurch hat sich an dieser Ungleichheit etwas verändert?

Stoverock: Ein echter Game-Changer war die Pille. Sie hat dazu geführt, dass Frauen wirklich Kontrolle über die Reproduktion erlangten. Natürlich gab es Kondome, aber sie wurden nicht regulär in einer festen Partnerschaft verwendet. In dem Moment, in dem sich Frauen von dem evolutionären Automatismus des Schwangerwerdens befreien konnten, fingen sie an, das Kinderkriegen weiter nach hinten zu verschieben. Sie begannen zu reisen, sich fortzubilden und Erfahrungen zu sammeln. Diese Entwicklung hat die Frauen stark befreit.

STANDARD: Männer und Frauen sind mehr als ihre Triebe. Sie binden sich nicht nur aneinander, um sich fortzupflanzen. Finden nicht auch viele Menschen Erfüllung in langjährigen Beziehungen?

Stoverock: Natürlich geht es auch um soziale Prozesse. Hinter der lebenslangen Beziehung steckt oft viel mehr Gesellschaftserwartung als eigener Antrieb und Liebe. Wir wachsen alle mehr oder weniger mit dem Ideal der Kernfamilie auf. Das erzeugt schon im Kindesalter Sehnsüchte, die wir später auf unsere Beziehungen projizieren. Man kann sich von diesen Sehnsüchten auch befreien. Das heißt nicht, dass man ein Leben ohne Liebe lebt. Aber man kann Beziehungen ohne den Wunsch, dass das jetzt bis ans Ende des Lebens halten muss, führen. Die Menschen merken langsam, dass kürzere Beziehungen, egal ob nur mit einem Partner oder mehreren, viel näher an unseren natürlichen Instinkten und unserem Glücksbestreben dran sind.

STANDARD: Sie wagen in Ihrem Buch einen weiten Blick in die Zukunft und sprechen vom "Ende der männlichen Zivilisation". Was meinen Sie damit?

Stoverock: Wir werden irgendwann in einer Zivilisation landen, in der die Frau wieder die alleinige Herrschaft über ihre eigene Sexualität hat, die ihr von den Männern genommen wurde. Es geht nicht darum, dass die Frau die Herrschaft über den Mann haben soll. Aber Männer werden automatisch in eine demütigere Position gebracht. Damit meine ich nicht, dass sie gedemütigt oder Bittsteller werden sollen. Aber ganz viele Männer laufen mit dem Selbstverständnis durch die Gegend, dass die ganze Welt nur darauf wartet, dass sie ihr Gegenüber mit ihrer Meinung und ihrem Wissen erhellen. Dieses Selbstverständnis, dem es teilweise wirklich an jeder Demut fehlt, könnte einen kleinen Dämpfer schon vertragen.

STANDARD: Was bedeutet diese Entwicklung für unsere Beziehungen?

Stoverock: Mit dem Rückgewinn der weiblichen Sexualität werden viele Männer keine Partnerin mehr finden. Es wird mehr Incels geben, also Männer, die unfreiwillig zölibatär leben und teilweise gewaltbereit werden können. Diese Männer müssen wir abfangen, müssen ihnen mit mehr Mitgefühl begegnen. Daneben wird auch die Industrie der Sexpuppen und Sexroboter boomen. Es gibt ja heute schon Sexpuppen, die lebendigen Frauen sehr ähnlich sehen. Mit künstlicher Intelligenz und Druck- und Sprachsensoren wird in Zukunft Erstaunliches möglich sein, um einsamen Männern zumindest die Illusion einer Partnerschaft zu geben.

STANDARD: Können diese Roboter wirklich eines Tages reale Beziehungen ersetzen?

Stoverock: Es gibt schon heute eine feste Community von Liebhabern, die diese Puppen und Roboter nicht als reinen Triebabbau benutzen, sondern mit ihnen leben. Sie setzen sich mit ihnen an den Esstisch oder vor den Fernseher und reden mit ihnen. Ich wage zu bezweifeln, dass die Männer am Ende so glücklich sein werden wie in einer Beziehung mit einer lebenden Frau. Dennoch geht es diesen Männern im Zusammenleben mit der Puppe besser als ohne. Es ist schon einmal eine positive Entwicklung, dass diese Männer so überhaupt jemanden für sich finden können.

STANDARD: Wenn ich es etwas provokant formulieren darf: Bedeutet Ihre Vision dann nicht, dass wir schon den Jungen in den Schulen vermitteln müssten, dass es einmal völlig normal ist, keinen Sex zu haben?

Stoverock: Auf jeden Fall! Je wählerischer Frauen bei der Partnerwahl werden, desto weniger wahr wird das Narrativ von "jeder Topf hat einen Deckel". Es ist wichtig, Jungen auf die tatsächlich gelebten Realitäten der Partnerwahl vorzubereiten: Dass es, egal was sie tun, immer sein kann, dass sie nicht erwählt werden. Das wäre besser, als den Jungen immer beizubringen, dass eine Frau, der sie nur genug Geschenke machen, irgendwann die Beine breitmacht.

STANDARD: Wäre eine Welt, in der Frauen mehr Macht besitzen, eine bessere?

Stoverock: Eine Welt, die von Frauen gestaltet ist, ist auf jeden Fall gerechter. Allein Positionen mit Frauen zu besetzen wird die Ungleichheit wahrscheinlich nicht ausgleichen können. Denn die männliche Zivilisation ist ein Netzwerk an Positionen, die ineinandergreifen und voneinander profitieren. Trotzdem ist es gut, Positionen divers zu besetzen. Ganz ohne Hierarchien kommen wir sicher auch in Zukunft nicht aus. Aber es darf keine Machtmonopole mehr geben, nur weil man mit einem Penis zur Welt gekommen ist. (Jakob Pallinger, 5.3.2021)