Ein aufrichtiger Held in unliebsamen Zeiten: Tom Schilling in Dominik Grafs Kästner-Verfilmung "Fabian oder Der Gang vor die Hunde".

Foto: Lupa Film

Keine Pressevorführungen, kein spontaner Applaus im Kinosaal, kein anschließender Austausch darüber, was man da gesehen hat. Stattdessen: der Fernseher, der wie ein Monolith im Wohnzimmer steht, und Kino "on demand". Zwischendurch: Textnachrichten am Handy von anderen einsamen Seelen, die ihre Eindrücke des Berlinale-Ersatzevents vermitteln. Und wie zum Hohn finden dann ausgerechnet in der Gasse vor der eigenen Wohnung noch Vorbereitungen für einen Filmdreh statt.

Corona sei Dank, denkt man da und ist froh, wenn einen der Film plötzlich direkt anspricht und auffordert, die Augen zu schließen. So geschieht’s in What Do We See When We Look at the Sky?, in dem der Georgier Alexandre Koberidze vom Zusammentreffen eines Mannes und einer Frau erzählt, die sich auf den ersten Blick verlieben und sich im nächsten Moment nicht mehr wiedererkennen. Denn öffnet man, wie aufgetragen, wieder die Augen, werden Lisa und Giorgi von zwei anderen Schauspielern verkörpert und müssen sich in der Stadt Kutaisi erst wiederfinden.

Berlinale - Berlin International Film Festival

Koberidzes Film ist, wie es darin in einem Zitat aus Gogols Die Nase heißt, dem Unerklärlichen im Leben gewidmet. In einer freien Form, die mühelos so gegensätzliche Motive wie Kinderspiele, die Freude an Speiseeis oder die kollektive Begeisterung an Fußball verknüpft, sucht er die Magie in profanen Beobachtungen. Das erinnert an die Frühzeit des Kinos, an Stadtsymphonien, die sich noch keinen Erzählungen untergeordnet haben. Und spitzt das Momenthafte zu eindringlichen Bewegungsstudien zu, wenn beim Kicken zu Gianna Nanninis Notte magiche Erinnerungen an die WM von 1990 wachgerufen werden.

Bester deutscher Spielfilm

Der Wettbewerb der Berlinale hat dieses Jahr einiges an ästhetischer Widerständigkeit zu bieten – ganz so, als wollte man die Diversität von Bildersprachen betonen. Dominik Graf war etwa unter den deutschen Filmemachern schon immer einer, der sich keiner Mode unterworfen hat und zwischen TV und Film zu einem Stil fand, der keine Berührungsängste zu kolportagehaften Elementen kennt. Seine Adaption von Erich Kästners erstem Roman, Fabian oder Der Gang vor die Hunde, ist nun mit Abstand der beste und ambitionierteste deutsche Spielfilm in der Konkurrenz.

Kästners Buch über den "Moralisten" gilt als Schlüsselroman der auslaufenden "Goldenen Zwanziger" in Berlin, an deren Ende die Machtergreifung Hitlers stand. Bei Graf ist die Fieberkurve von Anfang an auf dem Höchststand, in kaleidoskopähnlichen Montagesequenzen stößt er den Zuschauer in das rauschhafte Nachtleben des Werbetexters Fabian (Tom Schilling) und lässt auch sonst kein filmisches Mittel aus, um die Kakofonie einer Großstadt heraufzubeschwören, in der man sich dem Schein hingibt, dass es immer so weitergehen könne.

DCM

Doch die Misstöne, mit denen der Film auch Brücken zur Gegenwart baut, werden geschickt eingeschleust. Das erschöpfte Gesicht eines Arbeitslosen kontrastiert beispielsweise den verschwenderischen Lebensstil, das Posenhafte wird so durchschaubar. Fabian versucht in diesem dekadenten Sog seine Anständigkeit zu bewahren, aber selbst die Liebe zur aufstrebenden Schauspielerin Cornelia (Saskia Rosendahl) scheint gegen das Virus des Zerfalls nicht immun. Grafs dreistündiger Film mag an Grenzen gehen, sein unreiner, gattungssprengender Ansatz trifft die zersplitterte Moderne jedoch sehr gut.

Intime Begegnung

Ganz der Gegenentwurf dazu, im erzählökonomischen Sinn, ist Céline Sciammas Petite Maman, den die Französin im letzten Halbjahr unter Corona-Bedingungen gedreht hat. Sie nennt ihren Film eine "Zeitreise", die vom japanischen Animationsmeister Hayao Miyazaki mitinspiriert wurde. Die Prämisse ist simpel und profund: Ein siebenjähriges Mädchen begegnet im Wald seiner Mutter, als diese im selben Alter war, und erhält so die Möglichkeit eines Austauschs. In nur 70 Minuten gelingt es diesem Film, Bilder für eine intime Verbindung zu schaffen, die sonst unsagbar bleibt. (Dominik Kamalzadeh, 5. 3. 2021)