Rund zehn Jahre hat die US-Amerikanerin Julia Phillips an ihrem Debüt gearbeitet – und das Warten hat sich gelohnt.

Foto: Nina Subin

Es ist leicht, ein Buch mit belanglosen Stellen zu füllen und dann den Leserinnen und Lesern die Schuld in die Schuhe zu schieben, wenn sie das Buch weglegen. Es ist schon weniger leicht, so viele belanglose Stellen wie möglich aus dem Buch zu streichen. Und es ist richtig schwierig, belanglose Stellen so zu schreiben, dass sie trotzdem verschlungen werden. Julia Phillips kann das.

Zumindest in ihrem Debüt Das Verschwinden der Erde, das heuer bei dtv auf Deutsch erschienen ist. Dies beweist: Es gibt (noch) kein Gegenargument zu meiner These.

Gleichzeitig ist der Roman ein einziges Pro-Argument. Auf der russischen Halbinsel Kamtschatka, die noch östlicher als die japanischen Inseln liegt und fast an Alaska heranreicht, verschwinden zwei Mädchen spurlos. Das Verbrechen erinnert an einen ähnlichen Vorfall in der indigenen Bevölkerung vor wenigen Monaten. Der Fall hält fast die gesamte Region in Atem – und Phillips zeigt das anhand der zahlreichen weiblichen Protagonistinnen.

Krimi? Von wegen!

Es beginnt mit der Entführung der beiden Mädchen, Aljona und Sofija, und führt über die Gedanken der von Leid geplagten Mutter bis hin zu Frauen, die scheinbar rein gar nichts mit dem Fall zu tun haben.

Das alles ist – Gott sei Dank – kein Krimi. Es gibt keine knallharte Polizeichefin, die unnachgiebig nach den vermissten Mädchen sucht. Stattdessen wird man als Leserin und Leser unter anderem in die hilflose Situation der Betroffenen geworfen. Auf die niemand hören will, mit denen niemand ehrlich umgeht und die Polizeiinformationen, wenn überhaupt, nur aus dritter Hand erfahren.

Das klingt auf den ersten Blick fad, ist aber aufgrund des Schreibtalents Julia Phillips’ eine außergewöhnliche Reise. Ein Beispiel: Wenn eine der Protagonistinnen wegen eines ungewöhnlichen braun-violetten Flecks auf der Brust zum Arzt geht, verfolgt man als Leserin und Leser das von der ersten bis zu letzten Minute.

Erneut, das klingt im ersten Moment fad, entpuppt sich aber schnell als Fahrt in das Innere der Protagonistin. Die Gedanken schweifen von dem Ideal, für immer gesund, jung und schön zu sein, über den Job, um den man sowieso gerade bangt und der auch von viel jüngeren, attraktiveren Kolleginnen ausgeführt werden könnte, hin zu Hinweisen, die einem gerade einfallen und unbedingt dem Polizeiinspektor übermittelt werden müssen.

Es gibt keine Zufälle

Vieles davon wirkt auf die Leserin und den Leser banal, wie Ballast, all diese Informationen im Hinterkopf zu haben. Doch Phillips zeichnet damit strichgenaue Skizzen der Protagonistinnen und ihrer Leiden, und das so schamlos und pietätlos, dass es regelmäßig wehtut.

Ähnlich wie in Wolfgang Koeppens Klassiker Tauben im Gras springt Phillips dabei zwischen den verschiedenen Protagonistinnen hin und her. Und ähnlich scheinen diese Frauen nicht viel miteinander zu tun zu haben. Selbst das Verbrechen fungiert anfangs in den wenigsten Fällen als Kleber zwischen den Hauptfiguren. Nach und nach merkt die Leserin und der Leser aber, dass in diesem Roman nichts dem Zufall überlassen wird und kein Satz ohne Grund geschrieben wurde.

Zugegeben, die Menge an Personen, die es zu verfolgen gilt, kann erdrücken. Nicht umsonst ist am Anfang des Romans ein Glossar, das alle Figuren auflistet. Und die für unsere westlichen Ohren kompliziert klingenden russischen Namen helfen auch nicht. Aber allein die Thematik sollte zeigen, dass das keine gemütliche WC-Lektüre ist, sondern ein Thriller, auf den man sich einlassen muss.

Es lebe die Paranoia

Das bekräftigt auch das eher ungewöhnliche Setting, die russische Halbinsel Kamtschatka. Insgesamt zehn Jahre hat Phillips an ihrem Debüt geschrieben, dazwischen lagen zwei Recherchereisen, die sie genutzt hat, um die beeindruckende Landschaft der Region aufzusaugen.

Während der Roman an einem Strand beginnt und über Dörfer und Städte weiterzieht, endet er zwischen Vulkanen und Vegetation. Es sind vor allem die Kontraste, die Phillips ins Rampenlicht stellt. Gebeutelte Frauen in einer von (oft unfähigen) Männern dominierten Gesellschaft, gelegen in einer atemberaubenden und vielseitigen Landschaft.

Diese Region ist es auch, die die Paranoia der Leserin und des Lesers ausmacht. Zwar ist man bei der Entführung hautnah dabei, die Täterin oder den Täter kennt man aber nicht. Also sucht man unwillkürlich in dieser Ansammlung von Figuren nach einer schuldigen. In Kamtschatka leben insgesamt rund 300.000 Menschen, bei einer minimal größeren Fläche als Deutschland. Jeder scheint jeden zu kennen, niemandem ist zu trauen. Hinzu kommen Alltagsrassismus, Korruption und eine durch und durch sexistische Gesellschaft.

Das Verschwinden der Erde baut seine Spannung langsam auf, dann ist sie aber so plötzlich und auf einen Schlag da, dass man sich am Ende des Romans fragt, wann genau man sich in diesem Netz verfangen hat. (Thorben Pollerhof, 7.3.2021)