2020 war nicht nur das Jahr der Corona-Krise, es war auch das Jahr des Wissenschaftsjournalismus – und von Mai Thi Nguyen-Kim, die auf ihrem Youtube-Kanal "Mailab" vorbildliche Aufklärungsarbeit in Sachen Virus und Pandemie leistete. Das trug der promovierten Chemikerin nicht nur 1,2 Millionen Abonnenten und das meistgeklickte deutsche Video des Jahres ein. Die 33-jährige Wissenschaftsjournalistin erhielt auch noch das deutsche Bundesverdienstkreuz und wurde von einem Branchenmagazin zur deutschen Journalistin des Jahres gewählt – um nur zwei der zahllosen hochverdienten Auszeichnungen zu nennen.

Und vermutlich wird auch 2021 wieder ein Jahr für die wunderbare Wissenschaftsvermittlerin werden: Ab April hat sie im ZDF eine eigene Sendung.

Beste Wissenschaftsvermittlung

Nebenbei hat Nguyen-Kim, die Anfang 2020 zudem erstmals Mutter wurde, auch noch ein über 350-seitiges Buch geschrieben, das diese Woche erschien und natürlich sofort ganz oben auf den Bestsellerlisten landete. Und um es gleich vorwegzunehmen: Auch in diesem Fall bedeutet Popularität keinerlei Verlust an Qualität, im Gegenteil.

"Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit", so der Titel des Buchs, bietet anspruchsvolle Wissenschaftsvermittlung at its best: gesellschaftlich relevant, gründlich recherchiert und zudem unterhaltsam formuliert. Und man würde sich wünschen, dass zumindest Auszüge daraus zur Pflichtlektüre möglichst vieler Zeitgenossen würde.

Die neun Kapitel handeln allesamt von Streitfragen, die innerhalb und außerhalb der Wissenschaft heiß diskutiert werden: Wie gefährlich sind Drogen wirklich? Führen Videospiele zu mehr Gewalt? Denken Frauen anders als Männer? Oder – von besonderer Aktualität: Wie sicher sind Impfungen? Was all diese Themen, die "Mailab"-Fans zum Teil schon von ihren Videos kennen, gemeinsam haben: Die Faktenlage ist zumindest auf den ersten Blick widersprüchlich.

"Unite behind the science"?

Das macht es aber auch schwierig, so einfach Greta Thunbergs löblichem Motto "Unite behind the science" zu folgen. Denn was ist, wenn sich die Forscher selbst uneins ist? Wie stellen sie trotzdem Konsens her? Und was ist die "kleinste gemeinsame Wirklichkeit", auf die wir uns einigen können, um auf dieser Basis überhaupt sinnvoll streiten zu können?

Zwar stand der Titel des Buchs schon lange vor Corona fest. Die Krise hat ihm aber noch einmal neue Dringlichkeit gegeben: nicht nur, weil die wissenschaftliche Evidenz in vielen Fragen (etwa der Masken oder der Infektiosität der Kinder) nicht eindeutig war. Sondern weil es vielfach so scheint, also ob wir uns als Gesellschaft bei etlichen Themen gar nicht mehr verständigen und auf bestimmte Grundannahmen einigen könnten.

Fundierte Erkenntniskritik

Nguyen-Kim macht vor, wie es klappen könnte: Gleich zu Beginn jedes Kapitels gibt es eine Fangfrage, um die eigene (Vor-)Urteilsfähigkeit zu testen. Danach macht sie das, was Wissenschaftsjournalisten im Idealfall leisten sollten, aber nur in den seltensten Fällen so gut hinkriegen: Sie sichtet die wichtigsten Studien zu den umstrittenen Themen, referiert aber nicht nur die wichtigsten Erkenntnisse, sondern unterzieht sie einer fundierten und für die Leserinnen und Leser höchst lehrreichen "Kritik".

Dabei hält sie sich nicht lange mit Oberflächlichkeiten auf – etwa ob eine Studie in einem guten Fachblatt erschien –, sondern begibt sich gleich in medias res: Es geht um die wissenschaftliche Evidenz selbst, wie sie hergestellt wird und welche Grenzen sie hat. So wird jedes Kapitel neben erhellenden Einsichten zum Thema en passant zu einer kurzweiligen Einheit in Methodenlehre und Statistik.

Mai Thi Nguyen-Kim, "Die kleinste gemeinsame Wirklichkeit. Wahr, falsch, plausibel – die größten Streitfragen wissenschaftlich geprüft". € 20,60 / 368 Seiten. Droemer, München 2021

Anregende Abenteuerreise

Das klingt hier etwas anstrengend, und bei einigen Fragen – etwa nach Vererbung und Intelligenz – wird es ganz schön kompliziert, trotz Nguyen-Kims großem Talent, komplexe Sachverhalte anschaulich zu vermitteln. Aber genau das macht die Lektüre zu einer anregenden wissenschaftlichen Abenteuerreise, nach der man über vieles anders denkt als zuvor. Und von der man viele gute Anregungen mitnimmt – nicht zuletzt jene, wie sich Streitfragen künftig besser diskutieren lassen.


Bonustrack: Sechs Fragen an Mai Thi Nguyen-Kim

Warum sie als Dissertantin von der Wissenschaft in die Wissenschaftsvermittlung wechselte, wie ihre Familie und ihre Kollegen damals reagierten und über die Bedeutung von Wissenschaft in den Medien.

STANDARD: Sie haben Chemie studiert, 2017 promoviert und sind dann doch nicht Forscherin geworden. Warum eigentlich?

Nguyen-Kim: Ursprünglich wollte ich forschen, was auch mit dem Wunsch zu tun hatte, die Welt zu verbessern oder zumindest etwas Sinnvolles für die Gesellschaft zu machen. Die Doktorarbeit hat mir auch noch Spaß gemacht. Dann gab es die Option, entweder in die chemische Industrie zu gehen, was die meisten meiner Kollegen gemacht haben, oder an der Uni weiterzuforschen. Aber für die akademische Forscherkarriere hatte ich zum einen nicht genügend Publikationen – und zum anderen waren die Rahmenbedingungen dafür wirklich schlecht. Zudem war ich immer eher wissenschaftliche Generalistin und Allrounderin, was in der Forschung nicht unbedingt so gefragt ist.

STANDARD: Sie entschieden sich dann statt Uni und Industrie für etwas Drittes, nämlich den Wissenschaftsjournalismus. Wie kam es dazu?

Nguyen-Kim: Ich fing während der Doktorarbeit mit Science Slams und mit Videos an, und das hat mir unglaublich viel Spaß gemacht. Zudem wurde mir klar, wie wichtig diese Aufklärung über Wissenschaft ist, was zuletzt in der Corona-Pandemie besonders sichtbar wurde. Dazu kam die Freude darüber, dass man andere begeistern kann und dafür viel Anerkennung zurückbekommt. Da ist dann bei mir auch der Idealismus neu entflammt, der mich ursprünglich in die Forschung gebracht hat.

STANDARD: Ging sich das mit dem Youtuben neben der Dissertation überhaupt aus?

Nguyen-Kim: Ich hatte als Doktorandin das Glück, dass mein Doktorvater da sehr unterstützend war und es gut und wichtig fand, Wissenschaft an ein breites Publikum zu vermitteln. Aber ich weiß sehr genau, dass er da eine große Ausnahme war. Bei vielen Freundinnen und Freunden, die auch an ihrer Dissertation schrieben, hieß es stattdessen von Betreuerseite eher: "Hobbys finde ich jetzt nicht so toll. Du solltest schon Deine ganze Zeit im Labor verbringen."

STANDARD: Wie hat die Familie darauf reagiert, als Sie nach der Promotion die Wissenschaft verließen, um Youtuberin zu werden?

Nguyen-Kim: Die Familie fanden diese Aktivitäten gut, solange sie ein Hobby waren. Sie sind dann schon eher von den Stühlen gefallen, als ich ihnen nach der Dissertation erklärt habe, dass ich jetzt Youtube mache. Da gab es wohl auch die Sorge, dass dieses ganze lange Chemiestudium samt Doktorarbeit quasi umsonst war. Aber jetzt sind sie natürlich auch stolz.

STANDARD: Und wie war das mit den Kolleginnen und Kollegen im Labor?

Nguyen-Kim: Die aus der Wissenschaft haben eigentlich immer sehr positiv darauf reagiert. Die Freunde und Kollegen aus dem Medienbereich hingegen konnten das zunächst auch nicht ganz verstehen, dass ich mit der Forschung aufhöre, so nach dem Motto: "Forschung ist ja etwas wirklich Wichtiges, während wir ja nur etwas in den Medien machen." Ich fand das etwas seltsam, dass sie ihren eigenen Einfluss nicht gesehen haben, obwohl doch klar ist, dass wir in einer Informations- und Wissensgesellschaft leben. Ein Medienberuf ist schon aus diesem Grund sehr relevant. Und natürlich muss in den Medien auch Wissenschaft vertreten sein.

STANDARD: Wie geht es Ihnen heute mit der Entscheidung vor mehr als vier Jahren, das Labor gegen ein Heimstudie mit Mikrofon und Kamera einzutauschen?

Nguyen-Kim: Ich bin mit dem, was ich jetzt mache, superglücklich, weil ich auf diese Weise als einzelne Person viel mehr gesellschaftlichen Mehrwert generieren kann, als wenn ich im Labor stehen würde. Für Forschung sind andere Kollegen, die sich leidenschaftlich sieben Tage die Woche mit einem Molekül befassen können, besser geeignet als ich. (Klaus Taschwer, 6.3.2021)