2015 gewann der rumänische Regisseur und Drehbuchautor Radu Jude den Silbernen Bären für "Aferim". Bei der diesjährigen Berlinale wurde er am Freitag mit dem Goldenen Bären für den besten Film ausgezeichnet.

Foto: AFP / TOBIAS SCHWARZ

Berlin/Wien – Virtuell per Videokonferenz und damit ganz im nüchternen Stil des Online-Branchentreffs wurden am Freitag die Gewinner der Berlinale bekanntgegeben. Die feierliche Gala soll im Juni folgen, wenn die Filme für das Berliner Publikum dann auch im Kino präsentiert werden. Die Jury bestand aus fünf früheren Goldene-Bären-Gewinnern und hat mit sicherem Gespür den provokantesten Film aus dem verkürzten Aufgebot auserkoren, Radu Judes Bad Luck Banging or Loony Porn. Und nicht nur das: Er war auch einer der einfallsreichsten.

Der Rumäne, der wohl größte Satiriker unter den Filmschaffenden seines Landes, erzählt darin mit einer guten Portion Sarkasmus von der moralischen Scheinheiligkeit, die den Zusammenhalt einer Gesellschaft gefährdet. Ein privat gefertigter Porno einer Lehrerin tritt seine virale Reise an: Das ist der Ausgangspunkt eines Triptychons, in dem Jude souverän formal sehr unterschiedliche Perspektiven verwebt, die mit Thomas-Bernhard’scher Deutlichkeit Versäumnisse in der Vergangenheitsbewältigung und eine rezente Verrohung der Sitten diagnostizieren.

Katia Pascariu in "Bad Luck Banging or Loony Porn".
Foto: Micro Film

Bernhard sei einer seiner Lieblingsautoren, bestätigte Jude dem STANDARD und assoziiert sofort auf Deutsch "Nestbeschmutzer" dazu. Auch seine Waffe ist die groteske Übertreibungskunst, mit der er in Bad Luck Banging – übersetzt etwa: "Unglücksvögeln" – einen rüden Alltag mit Covid-19-Masken beschreibt: Menschen, die sich auf den Straßen Bukarests wegen Lappalien beschimpfen oder die als Mob aus empörten Eltern die kompromittierte Lehrerin an den Pranger stellen. Eine schöne neue Welt, in der nur Humor hilft.

Wette auf die Zukunft

Mit den beiden Jury-Preisen wurde aber auch ein leiseres Kino prämiert, das damit den nötigen Rückenwind erhält. Rysuke Hamaguchi ist der französischste Regisseur Japans und spielt in Wheel of Fortune and Fantasy in drei Episoden mit Zufallsbegegnungen in trügerischer Beiläufigkeit. In der schönsten davon treffen sich zwei Frauen auf einer Treppe und halten einander für Schulfreundinnen. Das stellt sich zwar bald als Verwechslung her aus, doch indem die beiden in ihre "falschen" Rollen schlüpfen, vermögen sie endlich etwas zu Ende zu führen, was in der Vergangenheit keinen Abschluss fand.

Berlinale - Berlin International Film Festival

Der deutschen Regisseurin Maria Speth ist mit dem dreieinhalb stündigen Herr Bachmann und seine Klasse dagegen das Kunststück eines Dokumentarfilms über eine Schulklasse geglückt, die einem – anders als Jude – wieder den Glauben an die Menschheit zurückgibt. Dabei geht es um ein großes Reizthema, denn keines der Kinder spricht muttersprachlich Deutsch. Doch der kurz vor der Pensionierung stehende Lehrer (mit AC/DC-T-Shirt) ist das Beispiel eines Pädagogen, der Kindern mit Geduld und echter Neugierde auf Augenhöhe begegnet. Die Schulklasse verwandelt sich hier zum integrativen Raum, in dem Gemeinschaft trotz aller Unterschiede ausverhandelt und gelebt wird.

Der fünftägige Branchenevent war eine Wette auf die Zukunft. Noch sind in vielen Ländern die meisten Kinos geschlossen, positive Signale kommen aus New York, wo dieser Tage, anders als in Österreich, wieder aufgesperrt wird. Die Berlinale-Leitung unter Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek wollte mit dem einmaligen Experiment den immensen Stau an Produktionen auflösen helfen, indem man Verleihern Zugang zu neuen Filmen gewährte.

Buzz für kleinere Filme

Dass sich nicht alle Weltvertriebe mit ihren Spitzentiteln auf dieses Spiel einließen – physische Premieren gelten als glamouröser und damit auch als geschäftsträchtiger –, lässt sich schon daran ablesen, dass die später im Jahr angesetzten Festivals von Cannes und Venedig dem Vernehmen nach bereits mit Filmen übergehen. Dennoch dürfte das riskante Projekt der Zweiteilung der Berlinale geglückt sein. Die Stimmung am European Film Market (EFM) war optimistischer, als mancher vermutet hat. Trotz der Verzögerungen in der Auswertung älterer Filme wurde viel eingekauft.

Mit 12.000 Branchenbesuchern zog EFM-Leiter Dennis Ruh ein positives Fazit, am meisten "Buzz", den größten Trubel, erzeugten Filme wie Céline Sciammas märchenhafte Mutter-Tochter-Studie Petite Maman, die mit Neon einen hippen US-Verleiher fand. Auch der Berlinale-Gewinner Radu Jude und Dominik Grafs Erich-Kästner-Adaption Fabian oder Der Gang vor die Hunde stießen auf großes Interesse. Für kleinere, künstlerisch wagemutige Filme dürfte sich die Beteiligung beim EFM also durchaus gelohnt haben.

Ersatz für das gängige Festivalmodell kann die rein virtuelle Form aber keine sein – zumindest nicht, was die sinnliche Erfahrung im Kino anbelangt. Gerade bei Filmen, die sich vom Primat des Erzählens loslösen, hat man die große Leinwand, das Einsinken in die Bilder mehr denn je vermisst: Es ist der Ort, an dem sie sich erst voll entfalten. (Dominik Kamazadeh, 5.3.2021)