Aktuell erleben wir einen regelrechten Ansturm auf freie Therapieplätze, sagt die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin Julia Theeg im Gastkommentar.

Fußball spielen mit Freunden? Unbeschwert aufwachsen? Kinder und Jugendliche leiden unter den Bedingungen während der Corona-Pandemie besonders.
Foto: Christian Fischer

Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin und Traumatherapeutin werde ich häufig mit Aussagen konfrontiert, dass die Auswirkungen der Corona-Maßnahmen für Kinder und Jugendliche traumatisch seien. Es heißt zum Beispiel, dass nicht mehr aufzuholen sei, was die Kinder jetzt verpassen. Oder dass die Belastung, Freunde oder Familienmitglieder nicht mehr sehen zu können, unweigerlich langfristig psychische Folgen mit sich ziehen werde. Wie ist all das mit dem Verständnis von Traumafolgestörungen und aus psychotherapeutischer Sicht einzuordnen?

Wir wissen aus Studien, dass die Wahrscheinlichkeit, eine posttraumatische Belastungsstörung zu entwickeln, bei Naturkatastrophen weniger wahrscheinlich ist als bei sogenannten "man-made disasters", also von Menschen verursachtem Leid wie bei Terror oder Krieg. Gleichzeitig zeigt etwa die sogenannte Copsy-Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf, dass Kinder und Jugendliche durch die Pandemie stark belastet sind und sich viele Sorgen machen.

Höheres Risiko

Wie passen diese beiden Tatsachen zusammen? Die aktuelle Studienlage deckt sich mit meinen Beobachtungen. Vor allem Kinder und Jugendliche aus sozial schwächeren Verhältnissen leiden, weil ihre Eltern über wenige Ressourcen verfügen. Vereinfacht kann man auch sagen: Je kleiner der Wohnraum ist, je weniger Geld zur Verfügung steht, je geringer die psychische Stabilität der Eltern ist, desto höher ist das Risiko, dass Eltern gewalttätig werden gegenüber ihren Kindern, und demnach erhöht es die Wahrscheinlichkeit der Kinder und Jugendlichen, psychisch zu erkranken. Waren Kinder und Jugendliche schon vor der Pandemie belastet, so steigen in diesen Familien die Konflikte bis hin zu körperlicher und emotionaler Gewalt und Vernachlässigung.

Der Rückschluss, dass Kindergärten und Schulen vor diesem Hintergrund sofort geöffnet werden sollten, ist trotzdem falsch – auch wenn natürlich der regelmäßige Besuch von diesen Institutionen Stabilität für Familien bedeuten kann. Als Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin weiß ich, dass Schule mitunter auch ein Ort ist, an dem Gewalt stattfinden kann. Zudem können Kinder auch unter der Angst leiden, sich oder andere (Familienmitglieder) anzustecken. Außerdem lässt die Argumentation der schnellen Schulöffnungen aufgrund der Belastungen der Kinder außer Acht, dass es auch Kinder und Familienangehörige gibt, die zur Risikogruppe gehören. Die Sorgen bezüglich einer Ansteckung und eines möglichen schweren Krankheitsverlaufs sind für viele junge Menschen hoch belastend.

Präventiv wirken

Viel wichtiger als ein schnelles Schule-auf-Schule-zu ist deshalb, schon jetzt langfristige Strategien zu verfolgen, die die Kinder und Jugendlichen in und nach der Krise auffangen und präventiv wirken. Dazu gehören finanzielle Soforthilfen für Jugendämter, Beratungsstellen und Jugendhilfemaßnahmen, um den Kinderschutz in den Familien sicherzustellen und psychisch massiv belasteten Familien Ansprechpartnerinnen und -partner sowie Hilfemaßnahmen an die Seite zu stellen. Das ist unsere einzige Chance, damit sich die Sorgen und Belastungen der Kinder und Jugendlichen nicht zu einer dauerhaften psychischen Erkrankung manifestieren. Dafür benötigt es mitunter schnelle Hilfe und Abklärung von Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutinnen und -therapeuten.

Aktuell erleben wir einen regelrechten Ansturm auf freie Therapieplätze, der so noch nie dagewesen ist. Laut der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung sind im Vergleich zum Vorjahreszeitraum die Patientenanfragen in diesem Bereich um 60 Prozent angestiegen. In Österreich wird dies kaum anders sein.

"Für alle Kinder und Jugendlichen, aber auch hier besonders für jene aus benachteiligten Familien, sind etwa Sportvereine ein Lernfeld für soziale Kompetenzen."

Wir benötigen also einerseits mehr Zulassungen für Psychotherapeutinnen und -therapeuten, um Chronifizierungen von psychischem Leid zu verhindern, andererseits sollten auch niedrigschwellige Angebote wie zum Beispiel Telefonseelsorge, Nummer gegen Kummer oder Krisenchat finanziell großzügig unterstützt werden als sofortige Interventionsmaßnahme bei hoher Belastung. Entscheidend wird auch sein, ob es nach der Pandemie Aufbauprogramme gibt, die Kinder und Jugendlichen psychisch zu stärken. Dazu gehören auch finanzielle Hilfen für Sportvereine und andere Freizeitangebote. Für alle Kinder und Jugendlichen, aber auch hier besonders für jene aus benachteiligten Familien, sind etwa Sportvereine ein Lernfeld für soziale Kompetenzen.

Schulen zu digitalisieren und Digitalisierung allen Schülerinnen und Schülern zugänglich zu machen ist nicht nur eine kurzfristige Möglichkeit, der Pandemie zu begegnen. Die Digitalisierung der Schulen gibt uns auch eine langfristige Chance von Integration und Prävention. Dies sollte mit hohem finanziellem Einsatz erfolgen, um zukünftig allen gerecht zu werden und auch Kindern und Jugendlichen aus sozial benachteiligten Verhältnissen die Teilhabe am Unterricht zu ermöglichen.

Es braucht Geld

Es braucht also viel Geld. Und das schnell. Nur so ist es möglich, Maßnahmen zum Kinderschutz und psychischer Gesundheit von Kindern und Jugendlichen rasch auszubauen, was ohnehin längst überfällig ist und deshalb in dieser Krise mit höchster Priorität behandelt werden sollte.

Die Corona-Krise verstärkt bereits vorhandene Belastungen bei Kindern und Jugendlichen. Das Thema psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in der Pandemie einzig an Öffnungen von Kindertagesstätten und Schulen festzumachen ist jedoch zu kurz gedacht. Das hilft gerade den Kindern aus benachteiligten Verhältnissen nicht ausreichend. (Julia Theeg, 6.3.2021)