Für die allermeisten Menschen in Österreich immer noch Zukunftsmusik: Impfung gegen das Coronavirus, hier in Long Beach, USA.

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Wien – Impfungen haben immer schon polarisiert, weiß die Politikwissenschafterin Katharina T. Paul. Seit der Erfindung des hocheffektiven Immunisierens Einzelner gegen Infektionskrankheiten seien sie auch immer schon ein Politikum gewesen. In der Coronavirus-Krise sind die Forschungen der 40-Jährigen aktueller denn je – arbeitet sie doch schwerpunktmäßig zur Akzeptanz von Impfungen und Impfpolitiken im Ländervergleich. Auch wirkt Paul bei der "Austria Panel Project"-Studie der Uni Wien sowie an der Interviewstudie "SolPan" der Universität Wien mit, die seit Pandemiebeginn die Einstellungen, Verhaltensweisen und Informiertheit der Bevölkerung erkundet.

Am kommenden Sonntag sitzt Paul bei der Veranstaltung "Europa im Diskurs" im Burgtheater mit auf dem Podium. Thema der Diskussion: "Impfung – ein knappes Gut?"

STANDARD: Laut Umfragen sind die Menschen in Österreich in den vergangenen Monaten von Impfmuffeln zu mehrheitlichen Impfbefürwortern mutiert. Was ist da geschehen?

Paul: Tatsächlich beobachten wir in der Panel-Studie seit Jänner einen positiven Trend in Richtung Impfbereitschaft. Davor, von Oktober bis Dezember, stagnierten die Werte. Gleichzeitig aber verfestigen sich die Positionen immer mehr in Extremen. Das ist eine zunehmende Polarisierung, ein Signal, dass in der Gesellschaft gerade etwas passiert.

STANDARD: Was genau passiert denn?

Paul: Das Impfen ist auch stellvertretend für die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft. Es geht um grundlegende Themen der demokratiepolitischen Gestaltung: Wie weit greift der Staat in die Privatsphäre ein? Das Impfthema ist eine Art Plattform, auf der diese Frage neu verhandelt wird.

STANDARD: Bei der Impfstoffbeschaffung sind die Menschen auf die EU und den Staat angewiesen. Schürt diese Abhängigkeit die Polarisierung?

Paul: Im Gegenteil, laut dem Panel-Projekt ist der Prozentsatz von Menschen, die sich eine Gratis- und damit eine staatlich organisierte Impfung wünschen, in den vergangenen Monaten sogar auf 87 Prozent gestiegen. Es herrscht eine starke Erwartungshaltung gegenüber dem Staat. Die Frage ist vielmehr, wie viel Vertrauen in den Ablauf der Impfkampagne besteht, denn hier gibt es Lücken im System.

STANDARD: Wie sehr hängt dieses Vertrauen vom Wissensstand über die Impfungen ab?

Paul: Wie und wie viel Daten und Wissen zur Verfügung gestellt werden, ist zentral, denn zwischen Expertentum und der Wahrnehmung des Vakzins in der Gesamtgesellschaft besteht eine Diskrepanz. Zur Qualität des Impfstoffs und zu dessen Eigenschaften muss so offen wie möglich kommuniziert werden. Dass die Verträge der EU mit den Firmen, die Corona-Vakzine produzieren, lange nicht offengelegt wurden – und dann nur mit Schwärzungen –, ist kommunikationspolitisch kontraproduktiv.

Katharina T. Paul: "Wir haben Corona-Dashboards, die einen gewissen Anschein von Ordnung bieten – aber darin versteckt sich viel Unordnung."
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STANDARD: Probleme hat vor allem der Impfstoff von Astra Zeneca, obwohl er laut Expertenansicht ein guter Impfstoff ist. Was lief da schief?

Paul: Die Wirkungsdaten dieses Vakzins wurden anfangs nur selektiv veröffentlicht. Auf dieser unzureichenden Basis wurde der Impfstoff dann mit den Produkten von Pfizer und Moderna verglichen. Dazu kam der Eindruck, dass die Europäische Kommission Astra Zeneca begünstigt habe, weil es billiger als die anderen Produkte ist. Ein solches Topdown-Vorgehen funktioniert nicht. In einer Wissensgesellschaft muss die Wissenschaft auch gut über Unsicherheiten kommunizieren können – und die spielen ja bei allen bestehenden Impfstoffen gewissermaßen eine Rolle.

STANDARD: Aber solche Unsicherheiten verunsichern auch. So gibt es nach einem Jahr Pandemie immer noch keine alltagstauglichen Erkenntnisse über das Infektionsrisiko auf Flächen.

Paul: Ja, und auch bei den Masken gibt es weiter Unsicherheiten, denn wissenschaftliche Evidenz funktioniert nicht binär, also mit Ja oder Nein, sondern vorläufig. Es gibt immer einen Verbesserungsprozess.

STANDARD: Gleichzeitig wird Wissen aber auch systematisch zurückgehalten oder, etwa durch populistische Bewegungen, bekämpft. Welchen Stellenwert hat diese Ignorance, wie Sie es nennen?

Paul: Dieses Problem geht über das strategische Nichtwissen, wie Linsey McGoey es nennt, oder das Ausklammern von Wissen hinaus. Auch das Vergessen oder Zurückhalten gehören dazu – etwa wenn Daten, die existieren, nicht ausgewertet werden. In Österreich zum Beispiel war die Dateninfrastruktur zu Beginn der Pandemie aufgrund der dezentralen Organisation des Gesundheitswesens unzureichend, daher musste man sehr stark auf Modellierungen und Schätzungen setzen. Jetzt haben wir Corona-Dashboards, die einen gewissen Anschein von Ordnung bieten – aber darin versteckt sich viel Unordnung.

STANDARD: Woran liegt das?

Paul: Unter anderem am Wunsch nach Datenhoheit. Wem gehören die Daten über verabreichte Impfungen? Bund und Länder sagen: uns – aber auch die Ärzteschaft mischt mit.

STANDARD: Hat damit auch das nur langsame Ausrollen der Impfung in Österreich zu tun? Warum impfen etwa Israel und Großbritannien so viel schneller?

Paul: Das Problem ist die mangelnde Digitalisierung. Israel hat ein digitalisiertes State-of-the-Art-Gesundheitssystem und gestaltet Angebote niederschwellig. Man kann die Menschen problemlos zur ersten und zur zweiten Impfung einladen, ohne den Überblick zu verlieren, und damit auch transparent arbeiten. Hinzu kommt, dass man in der EU Impfstoffe für alle Mitgliedsstaaten bestellt hat, die eine ganze Bandbreite von Gesundheitssystemen haben.

STANDARD: Die EU hat die vielen Impfstoffdosen auch bestellt, um den Überschuss via Covax an ärmere Staaten weiterzugeben. Ist das kein positiver, solidarischer Ansatz?

Paul: Leider ist er ins Hintertreffen geraten. Im Moment scheint es eher darum zu gehen, den gemeinsamen europäischen Weg wieder zu stärken und Alleingänge wie jene von Kurz in Israel einzudämmen. Covax verzögert sich nicht zuletzt durch diese bilateralen Vereinbarungen. Insofern stehen die Chancen für ein baldiges Ausrollen der Impfkampagne im Globalen Süden sehr schlecht. International spricht man von einer Verzögerung von mindestens zwei Jahren. Das kann uns durch wiederkehrende Infektionswellen noch auf den Kopf fallen. (Irene Brickner, 10.3.2021)