Zu Anfang der Corona-Pandemie vor einem Jahr war es Italien, das mit hohen Infektions- und Todeszahlen als Hauptsorgenkind in Europa galt. Inzwischen hat das Virus viele unbekannte Wege zurückgelegt, mit immer neuen Clustern und Hotspots. An der Spitze der Negativstatistik liegt derzeit Tschechien. Die Sieben-Tage-Inzidenz, also die Zahl der Neuinfektionen in einer Woche pro 100.000 Einwohner, beträgt hier knapp unter 770. Zum Vergleich: In Deutschland ist der Wert zweistellig, in Österreich bewegt er sich unter der Marke von 200.

Doch auch innerhalb Tschechiens gibt es markante Unterschiede. Noch vor kurzem standen die Städte ganz im Westen des Landes im Fokus, etwa Cheb (Eger) an der Grenze zu Bayern. Seit dem Wochenende aber hat sich der Wellenkamm der Pandemie wieder nach Osten verschoben. Zu den derzeit besonders stark betroffenen Gemeinden zählt die 32.000-Einwohner-Stadt Kolín in Mittelböhmen. Zuletzt lag die Sieben-Tage-Inzidenz hier sogar über 1.300. Auch Bürgermeister Michael Kašpar steht vor einem Rätsel.

Die Lage Kolíns an einem Bahnknotenpunkt könnte ein Grund für die hohen Infektionszahlen sein, glaubt Bürgermeister Michael Kašpar. Wirkliche Gewissheit darüber hat aber niemand.
Foto: Stadt Kolín

STANDARD: Was lässt sich über die aktuelle Situation in Kolín sagen?

Kašpar: Derzeit haben wir sehr viele Fälle, aber die Lage ändert sich von Woche zu Woche. Bei uns gab es einige Cluster, vor allem in Kindergärten. Es waren kleinere lokale Ausbrüche, aber sie betrafen fast 50 Einrichtungen, auch in den Gemeinden rund um Kolín, wo die Infektionszahlen zum Teil noch höher sind als in der Stadt selbst. Sie sind jetzt geschlossen, die Zahlen gehen wieder leicht zurück.

STANDARD: Die Pandemie stellt uns täglich vor neue Fragen. Können Sie sich erklären, warum gerade in Kolín die Zahlen so rasant gestiegen sind?

Kašpar: Kolín ist ein wichtiger Verkehrsknotenpunkt. Die Bahnlinie von Prag nach Brünn führt hier durch, zudem pendeln normalerweise viele Menschen auch zwischen Prag und Kolín selbst. Der Bahnhof ist stark frequentiert. Das könnte einen Einfluss auf die Infektionszahlen gehabt haben. Aber wir wissen es nicht, es ist nur eine Hypothese.

STANDARD: Wie kommt das Krankenhaus der Stadt mit der Situation zurecht?

Kašpar: Unser Krankenhaus zählt auch in normalen Zeiten im Kreis Mittelböhmen zu denen mit der höchsten Auslastung. Derzeit ist es voll belegt. Den anderen Spitälern im Kreis geht es aber ähnlich, genau wie vielen weiteren im ganzen Land. Aber wenn irgendwo Kapazitäten frei werden, dann versucht man, sie zu nutzen. Zum Krankenhaus Kolín gehört etwa auch noch das Spital im nahegelegenen Kutná Hora. Bei Bedarf werden die Patienten dann jeweils dorthin gebracht, wo es gerade ein freies Bett gibt.

STANDARD: Wie beurteilen Sie als Kommunalpolitiker die Maßnahmen der tschechischen Regierung?

Kašpar: Meiner Ansicht nach funktioniert die Kommunikation schon seit Beginn der Krise schlecht. Anfangs habe ich gedacht, dass sich das noch bessern wird, aber nach einem Jahr ist es noch genauso. Die Maßnahmen sind sehr chaotisch. Es wird etwas verordnet, das quasi ab dem nächsten Tag gelten soll, und am übernächsten Tag wird es wieder aufgehoben. Das ist das Hauptproblem, denn das Vertrauen der Menschen in das Vorgehen der Regierung sinkt deshalb rapide.

STANDARD: Entsteht auf diese Art ein Teufelskreis, weil die Menschen die Maßnahmen dann nicht mehr einhalten?

Kašpar: Ja, entweder weil sie frustriert sind oder weil sie sich überhaupt nicht mehr auskennen. Selbst ich als Bürgermeister habe oft Probleme, zu verfolgen, welche Maßnahmen gerade gelten, weil ständig neue kommen. Oft erfahren auch wir Verantwortlichen in der Kommunalpolitik die Dinge erst durch die Pressekonferenzen der Regierung oder vom Twitter-Account des Premierministers.

STANDARD: Kürzlich wurde es in Tschechien sogar verboten, die Bezirksgrenzen zu überqueren allerdings mit einigen Ausnahmen. Wie funktioniert das in der Praxis?

Kašpar: Für die Polizisten, die so etwas überwachen müssen, nimmt es einen großen Teil ihrer Tätigkeit in Anspruch. Wer seinen Bezirk verlässt, muss eine Erklärung mitführen, in der zum Beispiel steht, dass man anderswo ein berufliches Meeting hat. Diese Erklärung kann man sich selbst ausstellen, und die Polizei hat kaum die Möglichkeit, das zu überprüfen. Ich will nicht sagen, dass das viele Menschen machen, aber man könnte auch diese Regelung relativ leicht umgehen. (Gerald Schubert, 11.3.2021)