Der Begriff "Biedermeier" muss seit Beginn der Corona-Pandemie besonders oft als Metapher für den gesellschaftlichen Rückzug ins Private herhalten. Historisch werden die Jahrzehnte vor dem Ausbruch der Revolution im Frühling 1848 als Vormärz bezeichnet. Damals etablierte sich die Idee einer vermeintlich natürlichen Verschiedenheit der Geschlechter und wurde zu einem Denkmuster, das sogar noch die Gegenwart beeinflusst: Sollten sich Frauen vielleicht wieder auf ihre häusliche Rolle im Privaten besinnen? So wie vor 200 Jahren, nur diesmal in der Illusion der freien Wahl? Umringt von pausbäckigen Kindern, wie sie in scheinbarer Authentizität in den Bildern des Biedermeierkünstlers Ferdinand Georg Waldmüller dargestellt werden?

Ferdinand Georg Waldmüller, Mutterglück, 1860, Sammlung Wien-Museum
Foto: Foto: Birgit und Peter Kainz, Wien Museum https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/44032/

Keineswegs nur zu Hause: Frauen im Wien des 19. Jahrhunderts

In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts verdoppelte sich die Bevölkerung Wiens auf eine halbe Million. Die gegenwärtige Konjunktur des Biedermeier-Begriffs hängt vielleicht auch mit der Suche nach Parallelen der Erfahrung mit Seuchen und Epidemien in der Vergangenheit zusammen. An der Cholera starben ab 1830 in der imperialen Hauptstadt 18.000 Menschen. Kaum bekannt ist hingegen, dass Frauen schon damals in allen Berufszweigen anzutreffen waren. Ob die Erzeugung "besonders guter Krapfen", wie es eine zeitgenössische Werbeanzeige formulierte, das Betreiben von Badeanstalten und Kaffeehäusern, die Leitung von Mädchenschulen oder Theatern, Arbeit in Handwerk, Industrie sowie "im Dienst" – die meisten Frauen mussten erwerbstätig sein.

Sozialleistungen waren zur damaligen Zeit ein unbekanntes Konzept. Anlassgesetzgebung, die im Gegensatz zur systematischen Kodifikation ad hoc auf Problemstellungen reagierte, sowie die Praxis individueller Bittgesuche ermöglichten es einigen Frauen, trotz gesellschaftlicher Beschränkungen aufgrund ihres Geschlechts ihre Handlungsspielräume beträchtlich zu erweitern.

Ein Beispiel: Die Graveurin Josepha Gerstner (1781–1843), geb. Greifeneder, wohnhaft in der Wiener Vorstadt Wieden, übersiedelte ihr Gewerbe Mitte der 1820er-Jahre zur prominenten Geschäftsadresse Burg 2 am Michaelerplatz. Sie hatte aufgrund familiär erlernter Fähigkeiten die Genehmigung erhalten, als selbstständige Graveurin zu arbeiten. Vom Zeitpunkt ihrer Geschäftsübersiedlung zur Hofburg an annoncierte sie ihre Tätigkeit nicht mehr wie zuvor mit dem Zusatz "Witwe" oder "Frauenzimmer", sondern bezeichnete sich als "Siegel- und Schrift-Graveurin". Auch andere Frauen bewarben in der "Wiener Zeitung" ausführlich ihre Produkte und Dienstleistungsangebote.

Georg Emanuel Opitz, "Wiener Szenen und Volksbeschäftigungen", Blatt 17: "Der Bandelkrämer, Die Bürgersfrau, Die Fleischhauerinn mit ihrem Knechte", 1804–1812
Foto: Sammlung Wien Museum, CC0; https://sammlung.wienmuseum.at/objekt/337433/

Adelige Korrespondenz zeugt davon, wie Frauen sich damals in der Stadt bewegten. Die in Wien wohnenden Gräfinnen waren beständig mit Besorgungen für ihre Verwandten und insbesondere ihre Schwestern beschäftigt, die an unterschiedlichen Orten in der Monarchie verheiratet waren. Ihnen waren die Geschäfte am Michaelerplatz ebenso ein Begriff wie zahlreiche Unternehmerinnen, die Mode und Accessoires erzeugten.

Urbanisierung verdrängte Frauen aus dem öffentlichen Raum

Während im frühen 19. Jahrhundert Frauen aller Schichten meist ungestört ihre Wege erledigten, fand mit der zunehmenden Urbanisierung und den Möglichkeiten kollektiver Organisation ein allmählicher Ausschluss von Frauen aus dem öffentlichen Raum statt. Eine Bürgerliche oder Adelige, die sich um 1900 allein in der Stadt bewegte, war schnell von der Unterstellung unmoralischen Verhaltens bedroht. Frauen aus ärmeren Schichten waren schon früher diesem Vorwurf ausgesetzt. Allerdings blieben sie, solange sie eine Tätigkeit ausübten, im Alltag der Stadt oft unterhalb des Radars von selbsternannten Sittenwächtern.

Stereotype Rollenvorstellungen von Weiblichkeit hatten, je nach sozialem Hintergrund, verschiedene Spielarten. Und obwohl es vor 200 Jahren noch an Frauenbewegungen mangelte, zeugen Quellen von der Frustration von Frauen, für die andere Normen galten als für Männer. Fest steht aber: Das Biedermeier war keine Zeit der trauten Häuslichkeit. Frauen waren häufiger von Armut und prekären Lebensverhältnissen betroffen, mitunter auch jene adeliger Herkunft. Mehrfachbelastungen und häufige Gewalterfahrungen betreffen Frauen auch noch heute, und trotz besserer Rahmenbedingungen werden sie nach wie vor systematisch benachteiligt. (Waltraud Schütz, 11.3.2021)