Zwei bulgarische Historiker, einer davon der Verfasser dieses Beitrags, haben vor kurzem einen Aufsatz veröffentlicht, dessen Ergebnisse den Kalender der nationalen Feiertage des Landes in seinen Grundfesten erschüttern. Das Geburtsdatum von Vasil Levski, der zentralen Gestalt des bulgarischen Nationalpantheons, die in jedem Schulbuch aufscheint und an die auf Hunderten von Denkmälern im In- und Ausland erinnert wird, ist zweifellos falsch. Ironischerweise sind es osmanische Quellen, die diese These untermauern, also Verwaltungstexte jenes Reiches, das Vasil Levski als Revolutionär bekämpft hatte und von dem er schließlich hingerichtet worden ist.

Wer war Vasil Levski?

Vasil Levski im Jahre 1870.
Foto: Nationalmuseum Vasil Levski

Der in der Stadt Karlovo (Zentralbulgarien) geborene bulgarische Revolutionär Vasil Ivanov Kunčev wird oft als "Apostel der Freiheit" bezeichnet, weil er der führende Ideologe und Stratege der nationalen Befreiungsbewegung der Bulgaren gegen das Osmanische Reich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war. Seine frühen Jahre verbrachte er als orthodoxer Mönch. Bald aber schloss er sich der bulgarischen revolutionären Bewegung an. Er sammelte Kampferfahrung in der Ersten Bulgarischen Legion, die 1862 in Belgrad organisiert worden war, um den bewaffneten Kampf gegen das Osmanische Reich aufzunehmen. Wegen seiner Tapferkeit und seiner außergewöhnlichen körperlichen Fähigkeiten erhielt er den Spitznamen Levski (der Löwengleiche).

Allmählich enttäuscht von der Strategie der führenden Revolutionäre, die die Unabhängigkeit Bulgariens von der Unterstützung durch die Großmächte abhängig machten, verfolgte Vasil Levski einen anderen Ansatz. Er versuchte, einen unabhängigen bulgarischen Volksaufstand durch ein Netzwerk von geheimen revolutionären Komitees zu schüren, die er in den späten 1860er und frühen 1870er Jahren ins Leben rief. Levskis revolutionäre Organisation brach jedoch zusammen, als ihn die osmanischen Behörden im Dezember 1872 verhafteten und ein außerordentliches Tribunal ihn in Sofia zum Tode verurteilte. Am 6. Februar 1873 wurde er am Rande der damaligen Stadt Sofia gehängt, an der Stelle, wo heute sein Denkmal – nunmehr im Zentrum der Hauptstadt Bulgariens – steht.

Denkmal von Vasil Levski in Sofia (2019).
Foto: Grigor Boykov

Vasil Levski im bulgarischen nationalen Gedächtnis

Im Jahr 2007 wurde Vasil Levski in einer vom Bulgarischen Staatsfernsehen organisierten Umfrage zum "größten Bulgaren aller Zeiten" erklärt. Dieses Ergebnis ist nicht überraschend, denn Levski nimmt einen ganz besonderen Platz im bulgarischen Nationalgedächtnis ein: er ist einer der tragenden Säulen, auf denen der nationale Mythos ruht. Fast jede Stadt in Bulgarien hat eine Hauptstraße und eine Schule nach dem Revolutionär benannt. Mehrere Dörfer und eine Stadt tragen seinen Namen, die Nationale Militäruniversität ist nach Vasil Levski benannt, ebenso die Nationale Sportakademie. Levski heißt auch der beliebteste Fußballverein Bulgariens, der überdies oft im Nationalstadion spielt, das wiederum Vasil Levskis Namen trägt. Hunderte von Denkmälern im ganzen Land gedenken der einzigen historischen Figur Bulgariens, die von allen Schichten und politischen Spektren der ansonsten polarisierten bulgarischen Gesellschaft einhellig akzeptiert wird.

Die historische Persönlichkeit des Revolutionärs wird im allgemeinen Volksgedächtnis heiligengleich verehrt und tatsächlich wurde Vasil Levski 1996 von einer dissidenten Fraktion der bulgarischen Kirche sogar heiliggesprochen – ein Akt, der jedoch vom Heiligen Synod der bulgarisch-orthodoxen Kirche nicht anerkannt wurde. Vielmehr annullierte dieses oberste Gremium der bulgarischen Orthodoxie im Jahre 2004 diese Heiligsprechung. Die Ikone, die Levski als Heiligen darstellte, wurde in Stücke geschlagen und verbrannt.

Dennoch hat der Druck auf die Kirche, Vasil Levski heiligzusprechen, obwohl er als Revolutionär einen Mord begangen und daher nach christlichen Verständnis eine Todsünde begangen hat, nie wirklich nachgelassen. In den Jahren 2018 und 2019 appellierte der Parteichef der ultranationalistischen Partei "Nationale Front zur Rettung Bulgariens", ein Koalitionspartner und ehemaliger Vizepremier in der Regierung des gegenwärtigen Ministerpräsidenten Bojko Borisov, wiederholt an den Heiligen Synod, ein neues Verfahren zur Heiligsprechung Vasil Levskis einzuleiten.

Es sind mehrere Faktoren, die Levski zu einer so konsensuellen und einheitsstiftenden Figur für die bulgarische Gesellschaft machen: seine egalitären Ansichten, die von der französischen Revolution inspiriert waren, und seine Vision von Bulgarien als einer demokratischen Republik, in der die verschiedenen ethnischen Gruppen in einem Rechtsstaat Gleichheit genießen würden, sind ein Ideal, um das die Bulgaren immer noch ringen. Auch seine legendäre Intoleranz gegenüber Korruption und Veruntreuung öffentlicher Gelder nimmt den Status eines fast unerreichbares Ideals in einem Land ein, das zu den korruptesten in der Europäischen Union zählt.

Die Veränderung eines Details

Eine historische Persönlichkeit von solcher Bedeutung für Bulgarien genießt seit langem die große Aufmerksamkeit der Forschung. Entsprechend zahlreich sind Studien, die Details seiner Biographie, seine Ideen und seine revolutionäre Tätigkeit untersuchen. Trotzdem gibt es immer noch Episoden aus seinem Leben, die im Dunkeln liegen. Das Geburtsdatum von Vasil Levski, das jeder Bulgare dank der vor mehr als einem Jahrhundert erfolgten Kanonisierung durch das nationale Bildungssystem kennt, ist, so unanfechtbar es auch erscheinen mag, eine jener Etappen in der Biographie Vasil Levskis, die historische nur spärlich belegt ist. Die orthodoxe Kirche seines Geburtsorts Karlowo führte im 19. Jahrhundert kein Taufregister, weshalb den Historikern keine lokale Quelle zur Verfügung stehen, die es ihnen erlauben würde, die Frage nach dem Geburtsdatum des Revolutionärs zu klären.

Schon bald nach der Unabhängigkeit Bulgariens (1878), als der junge Staat das Pantheon seiner Nationalhelden errichtete, wurde die Frage nach Levskis Geburtstag unter seinen frühesten Biographen debattiert, die für verschiedene unterschiedliche Geburtsjahre zwischen den 1830er und 1840er Jahren eintraten. Die Debatte wurde schließlich im Jahr 1895 von einem Rat der Verwandten Levskis gelöst, der sich auf die Erinnerungen der älteren Familienmitglieder stützte und den 6. Juli 1837 als Geburtsdatum festlegte. Seitdem wird dieser Tag offiziell akzeptiert und von den staatlichen Institutionen und dem Bildungssystem im Land verwendet.

Obwohl in jüngerer Zeit verschiedene populäre und wissenschaftliche Publikationen versuchten, alternative Geburtsjahre von Vasil Levski anzubieten, beruhte ihre Argumentation nicht auf solidem Quellenmaterial. So blieb das offizielle Datum trotz der offensichtlich fragwürdigen Zuverlässigkeit der Erinnerungen der Verwandten in der öffentlichen Meinung unangefochten. Die reichen Archive des Osmanischen Reiches, das Levski unter Opferung seines Lebens bekämpft hatte, liefern allerdings solide Beweise, die das gemeinhin akzeptierte Geburtsdatum des bulgarischen Revolutionärs erheblich verschieben.

Die regelmäßig durchgeführten Registrierungen der männlichen Bevölkerung im Osmanischen Reich aus den 1830er und 1840er Jahren bieten Historikern neue und zuverlässige Quellen, die mit großer Sicherheit die Festlegung des Geburtsjahrs der ikonischen Figur der bulgarischen Nationalbewegung erlauben. Levskis Familie, sein Vater, sein Onkel und sein Cousin ersten Grades sind zum ersten Mal in einem Register von 1833 erfasst, während sich der zukünftige Revolutionär logischerweise nicht darunter findet, einfach weil er noch nicht geboren war. Zwei spätere Bevölkerungsregister, die in der ersten Hälfte der Jahre 1839 und 1840 erstellt wurden, zeigen wiederum ex silentio, dass das gemeinhin angenommene Geburtsjahr von Vasil Levski mit Sicherheit falsch ist: Denn wäre der Revolutionär tatsächlich 1837 geboren, müsste er zum Zeitpunkt der Registrierungen ein Kind im Alter von zwei oder drei Jahren gewesen sein – und wäre als solches sicherlich im gemeinsamen Haushalt mit seinem Vater und Onkel registriert worden.

Osmanisches Bevölkerungsregister von 1844, das Vasil Levski als vierjähriges Kind erwähnt.
Foto: Grigor Boykov

Vasil Levski erscheint in den osmanischen Bevölkerungsregistern jedoch erst vier Jahre später, im Jahr 1844, als er bereits ein Bub im Alter von vier Jahren war. Diese neuen Beweise zeigen unzweideutig, dass die Erinnerung der älteren Mitglieder des Verwandtenrates, die 1837 als Geburtsjahr angegeben hatten, nicht mehr so frisch gewesen sein konnte. Auf der Grundlage der neu gefundenen Dokumente kann somit 1840 als das richtige Geburtsjahr des Nationalhelden festgelegt werden.

Die mögliche Bedeutung dieser Entdeckung

Die oben geschilderten Forschungsergebnisse wurden vor kurzem in einer angesehenen wissenschaftlichen Zeitschrift in Bulgarien veröffentlicht. Sollte das neu vorgeschlagene Datum von der Wissenschaftscommunity und der Öffentlichkeit akzeptiert werden, müssen die bulgarischen staatlichen Behörden eine Änderung vornehmen. Sie werden jenen staatlichen Feiertag ändern, der jedes Jahr in Erinnerung an Levskis Geburt begangen wird. Die Feierlichkeiten finden in der Regel in Levskis Geburtsstadt Karlovo statt und werden entweder vom Präsidenten der Republik oder vom Parlamentspräsidenten eröffnet. Auch Schulbücher müssen korrigiert werden, damit die Schüler das korrekte Datum lernen können. Zu guter Letzt wird auch das "Nationalmuseum Vasil Levski", das als "Geburtshaus" des Revolutionärs gilt, einige Änderungen vornehmen müssen, da die osmanischen Dokumente eindeutig zeigen, dass der junge Levski in einem anderen Viertel seiner Heimatstadt geboren wurde und dort seine ersten Jahre verbrachte – dass schließlich auch das "Geburtshaus" also keines ist.

Die Reaktion der staatlichen Behörden und der Politik wird höchstwahrscheinlich von der Bereitschaft der Öffentlichkeit abhängen, das korrekte Geburtsjahr des Nationalhelden zu akzeptieren. Dieser Prozess ist schwierig und politisch heikel. Am besten zeigt dies vielleicht die Entscheidung eines der größten privaten Fernsehsender Bulgariens, der die neu gewonnenen Erkenntnisse zwar aufgriff und auch eine Dokumentation dazu vorbereitete, die am Sonntag, dem 28. Februar 2021, in der Hauptsendezeit hätte gezeigt werden sollen.

Nachdem der TV-Sender den ganzen Vormittag über den Dokumentarfilm und über die sensationelle Neuentdeckung in den osmanischen Archiven beworben hatte, entschied er sich wenige Stunden später, das Thema im letzten Augenblick aus dem Dokumentarfilm herauszuschneiden. Man mag sich fragen, wer oder was eine solche Entscheidung motiviert haben könnte und ob etwa staatliche Institutionen in Bulgarien versucht haben könnten, die öffentliche Verbreitung der Ergebnisse einer wissenschaftlichen Untersuchung von großer öffentlicher Bedeutung eventuell zu erschweren.

Dieser Blog-Beitrag erscheint nur wenige Tage nach dem bulgarischen Nationalfeiertag, an dem der Abschluss eines vorläufigen Friedensvertrags im Krieg zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich in den Jahren 1877–1878 begangen wird. Während die bulgarischen Institutionen sehr darauf bedacht sind, die These weiter zu pflegen, wonach Russland als "Befreier der Bulgaren" gilt, wird die Zukunft erweisen, ob dieselbe geschichtspolitische Herangehensweise verfolgt wird, wenn es um jene Gestalt geht, die an die Idee glaubte und auch dafür starb, dass die Bulgaren, wenn sie in einem freien und unabhängigen Staat leben wollen, diesen auch selbst erreichen müssen. (Grigor Boykov, 11.3.2021)