Am 4. März 1919 trat die konstituierende Nationalversammlung Deutsch-Österreichs zu ihrer ersten Sitzung zusammen. Acht der 170 Abgeordneten, also fünf Prozent, waren Frauen. In der achten Sitzung der Nationalversammlung am 3. April 1919 sprach das erste Mal eine Frau. Die Abgeordnete Adelheid Popp erläuterte den "Gesetzesantrag über die Aufhebung des Adels, der weltlichen Ritter- und Damenorden und gewisser Titel und Würden". Sie, die ein Vierteljahrhundert politische Erfahrung mitbrachte, und die christlichsoziale Abgeordnete Hildegard Burjan sind die bekanntesten weiblichen Mitglieder der Nationalversammlung, über die zum Weltfrauentag am 8. März immer wieder wegen ihrer Vorbildfunktion für Frauen in der Politik berichtet wird. Wer aber waren die anderen Frauen, die diese erste Periode der jungen Republik mitgestalteten?

Die ersten weiblichen Abgeordneten in der konstituierenden Nationalversammlung am 4. März 1919.
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Obwohl alle sechs weiteren Parlamentarierinnen der sozialdemokratischen Partei angehörten, war die Zusammensetzung nicht so homogen, wie man annehmen könnte. Allen gemeinsam war, dass sie, die seit langem für das Wahlrecht der Frauen gekämpft hatten, sich nun an vorderster Front für Verbesserungen des Lebens der Frauen in sozialer und familiärer Hinsicht und für mehr Bildungsmöglichkeiten und eine stärkere Teilhabe von Frauen an der Politik einsetzten. Einige von ihnen stammten aus armen Verhältnissen, mussten die Schule vorzeitig abbrechen, um zum Lebensunterhalt beizutragen. Sie kamen mit der Sozialdemokratie durch verschiedenste Umstände in Berührung und nutzten die ihnen dort gebotene Chance zu Weiterbildung und politischer Betätigung.

Andere kamen aus bürgerlichen, oft wohlhabenden Familien und wandten sich, das soziale Elend der Arbeiterschicht erkennend, der sozialdemokratischen Bewegung zu, um dieses Elend zu beseitigen. Manche waren blendende Rednerinnen, andere betätigten sich eher auf bürokratischem Gebiet. Einige von ihnen waren seit November 1918 auch Abgeordnete im Wiener Gemeinderat. Durch ihre Parteizugehörigkeit waren sie sowohl nach den Februarkämpfen 1934 als auch nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten 1938 persönlich gefährdet.

1. Reihe: Marie Schuller, Anna Boschek, Therese Schlesinger, Amalie Seidel, Adelheid Popp, Gabriele Proft, hier im Frauenreichskomitee und Niederösterreichischen Landesausschuss 1917.
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Die Großbürgerin

Therese Schlesinger, 1863 (Wien) bis 1940: Als eines von sechs Kindern aus der jüdischen, politisch interessierten Industriellenfamilie Eckstein erhielt sie eine ausgezeichnete Bildung. Sie arbeitete mit bürgerlichen Frauen zusammen, trat 1897 der Sozialdemokratie bei, hier hatte sie mit Ressentiments wegen ihrer bürgerlichen Verbindungen zu kämpfen. Besonders wichtig war ihr die (politische) Bildung der Frauen, Gleichstellung im Familienrecht und gleiche Bezahlung für gleiche Leistung. Wie ihre bürgerliche Mitstreiterin Auguste Fickert vertrat sie die Idee der Zentralwäschereien, Zentralküchen, Kindergärten und Horte. Sie zählte zur Führungsspitze der sozialdemokratischen Frauen, es blieb aber immer eine gewisse Distanz bestehen. Sie war Abgeordnete bis 1923, dann Bundesrätin. Im Februar 1934 wurde sie nicht verfolgt, 1939 musste sie mit 76 Jahren nach Paris emigrieren, wo sie 1940 starb.

Die Gewerkschafterinnen

Anna Boschek, 1874 (Wien) bis 1957: Nach dem Tod des Vaters musste sie die Schule nach vier Klassen abbrechen und mit Fabrik- und Heimarbeit zum Familienunterhalt beitragen. Durch eine Freundin lernte sie die Gewerkschaftsbewegung kennen, sie trat dem Arbeiterinnen-Bildungsverein bei und wurde bei der Gewerkschaftsorganisation für Frauen angestellt. Ihr Spezialgebiet waren Arbeits- und Sozialfragen. Sie war die erste Frau im Vorstand der Sozialdemokraten, Abgeordnete bis zur Auflösung des Nationalrats 1933. Im Februar 1934 wurde sie verhaftet und blieb auch nach ihrer Freilassung unter Polizeiaufsicht. Im Nationalsozialismus blieb sie offensichtlich unbehelligt. Ein letztes Mal sprach sie 1957, einige Monate vor ihrem Tod, bei der Internationalen Sozialistischen Frauenkonferenz in Wien.

Gabriele Proft, 1879 (Troppau/Mähren) bis 1971: Proft musste die Schule abbrechen, um Geld zu verdienen. Sie war Hilfsarbeiterin, 1896 zog sie nach Wien, wo sie erst Dienstmädchen, dann Näherin in Heimarbeit wurde. Nachdem sie einen Vortrag des sozialdemokratischen Gemeinderats Franz Schuhmeier gehört hatte, trat sie sofort einem Arbeiter-Bildungsverein bei und wurde in der Gewerkschaft tätig. Neben gewerkschaftlichen Angelegenheiten trat sie aufgrund persönlicher Erfahrungen für die Gleichstellung von Lebensgefährtinnen und Ehefrauen ein. Sie gehörte dem linken Flügel der SDAP an und war eine entschiedene Kriegsgegnerin. Als Abgeordnete fungierte sie in allen Gesetzgebungsperioden der Ersten und bis 1953 auch der Zweiten Republik. Im Februar 1934 Verhaftung und Gefängnis. 1944 bis Kriegsende war sie im KZ interniert. Sie wurde 1949 als erste Frau "Bürgerin der Stadt Wien".

Die Genossenschafterin

Amalie Seidel, 1876 (Wien) bis 1952: Sie musste schon als Schülerin Heimarbeit verrichten, brach die Schule mit 13 Jahren ab und wurde Dienstmädchen. Vom Vater, einem gewerkschaftlich organisierten Sozialdemokraten, wurde sie politisch sozialisiert. Mit 16 Jahren trat sie dem Arbeiterbildungsverein bei. Als Fabrikarbeiterin setzte sie mit Kolleginnen den arbeitsfreien 1. Mai 1893 durch und wurde daraufhin entlassen, nach einem Streik der Arbeiterinnen aber wieder eingestellt. Sie befürwortete die Konsumgenossenschaften und gründete 1912 mit Emmy Freundlich die Genossenschaftliche Frauenorganisation. 1903 bis 1932 war sie Vorsitzende der sozialdemokratischen Frauenreichskonferenzen. Ihr Engagement galt sozialpolitischen Fragen und dem Jugendhilfswerk. Sie war Abgeordnete bis zur Parlamentsauflösung 1933. Im Februar/März 1934 war sie für einige Zeit in Haft. Auch während der NS-Zeit war sie einige Wochen im Gefängnis. Amalie Seidel wird zu den "Großen" der Partei in der Ersten Republik gezählt.

Die Ökonominnen

Emmy Freundlich, 1878 (Aussig an der Elbe – Ústí nad Labem) bis 1948: Stammte aus bürgerlicher, politisch interessierter Familie. Nach dem Tod des Vaters übernahm sie 17-jährig die Familienangelegenheiten. Sie kam im dafür prädestinierten Industriegebiet Böhmens mit den Ideen der Sozialdemokratie in Berührung, lernte auf Veranstaltungen Popp und Boschek kennen, die ihr auch in Wien zu Kontakten verhalfen. Sie publizierte in sozialdemokratischen Zeitungen und betätigte sich in der Gewerkschaft Mährens. 1911 übersiedelte sie nach Wien, wo sie Immobilien besaß und dadurch keine finanziellen Probleme hatte. Im Selbststudium erwarb Freundlich Kompetenz in volkswirtschaftlichen Frauenfragen und hatte eine leitende Funktion im Verband der Konsumgenossenschaften, 1919 bis 1922 war sie Direktorin des Amtes für Volksernährung. Sie war Abgeordnete bis 1933, Spezialistin für wirtschaftliche und finanzpolitische Angelegenheiten, was sie bei Männern nicht besonders beliebt machte. 1924 wurde sie als einzige Frau in das Vorbereitungskomitee für die internationale Weltwirtschaftskonferenz des Völkerbunds delegiert und 1927 zur Vizepräsidentin der Konferenz gewählt. Im Februar 1934 entging sie einem Gefängnisaufenthalt aufgrund internationaler Interventionen. 1938, nach der Machtübernahme durch die Nazis, plädierte sie öffentlich gegen ein Ja bei der Volksabstimmung. Sie ging ins Exil nach London, als Präsidentin der International Co-operative Women's Guild, einer Organisation der Genossenschaftsbewegung, lebte sie von 1947 bis zu ihrem Tod in New York.

Emmy Freundlich
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Maria Tusch, 1868 (Klagenfurt) bis 1939: Maria Tusch war das ledige Kind einer Magd und kam siebenjährig in das Kloster Maria Saal, wo sie neben der Volksschule im Dienstleistungsbereich arbeiten musste. Ab 1880 war sie Arbeiterin in der Klagenfurter Tabakfabrik. Sie wurde Mitglied und Vertrauensperson des Fachvereins der Tabakarbeiter und Tabakarbeiterinnen Klagenfurts und Betriebsrätin. Als Abgeordnete bis zum Ende der Demokratie 1933 spezialisierte sie sich auf sozialpolitische und frauenspezifische Themen und Probleme ihrer Region, ihre Expertise in wirtschaftlichen Angelegenheiten des Tabakmonopols war geschätzt. Sie kämpfte für die Straffreiheit von Schwangerschaftsabbrüchen. Über ihre Behandlung im Februar 1934 ist nichts bekannt, 1939 starb sie an einem Herzinfarkt.

Zum Schluss die gute Nachricht

Alle acht Frauen wurden mit der Benennung einer öffentlichen Verkehrsfläche geehrt.

  • Anna-Boschek-Platz, 21., Leopoldau
  • Hildegard-Burjan-Hof, 13., Speisinger Straße 46, Städtische Wohnhausanlage
  • Emmi-Freundlich-Gasse, 21., Stammersdorf
  • Adelheid-Popp-Park, 17., Ortliebgasse
  • Adelheid-Popp-Gasse, 22., Stadlau
  • Gabriele-Proft-Weg, 22., Aspern
  • Amalie-Seidel-Weg, 12., Altmannsdorf
  • Schlesingerplatz, 8., Josefstadt, ist ein Kuriosum. Ursprünglich nach dem christlichsozialen und antisemitischen Politiker Josef Schlesinger benannt, wurde der Platz im Jahr 2006 umgewidmet, der Name Schlesingerplatz bezieht sich seither auf die Abgeordnete Therese Schlesinger.
  • Maria-Tusch-Straße, 22., Seestadt Aspern

Übrigens: Das Gesetz zur Abschaffung des Adels wurde am 3. April 1919 in dritter Lesung angenommen. Am gleichen Tag wurde auch das Gesetz zur Abschaffung der Todesstrafe beschlossen. (Friederike Kraus, 12.3.2021)