Seit einem Jahr plötzlich überall: Sars-CoV-2.

Es ist vor allem der Anstieg der Fallzahlen in Europa, der die Weltgesundheitsorganisation alarmiert. Die Regierungen tun nicht genug, um der Ausbreitung von Sars-CoV-2 entgegenzutreten, sagt WHO-Generalsekretär Tedros Adhanom Ghebreyesus. "Das Ausmaß der Untätigkeit ist alarmierend", die Fallzahlen steigen massiv.

Es ist der 11. März – aber nicht 2021, wie man angesichts einer ähnlichen Ausgangssituation meinen könnte, sondern 2020. Die WHO hat die Situation rund um das damals noch "neuartige Coronavirus" soeben zur Pandemie erklärt. Den Vorwurf der Untätigkeit, den Tedros weitergibt, hat seine Organisation bisher vor allem selbst erhalten. Und auch die Pandemieerklärung mag eher ein Formalakt sein – aber jedenfalls kam sie zu spät. Darüber ist man sich nun, ein Jahr danach, recht einig.

DER STANDARD

In China, dem mutmaßlichen Ursprungsland des Virus, war die Intensivphase da schon vorbei. 24 neue Fälle meldeten die Behörden damals, nur 13 in der Provinz Hubei, wo sich das einstige Virusepizentrum Wuhan befindet. Später sollte es Zweifel an den offiziellen Zahlen geben, sie waren wohl stark untertrieben. Dass die massiven Lockdowns, die im März 2020 in China noch in Kraft waren, ihr Ziel aber erreichten – das scheint klar. Bis heute hat das Land, das auf die Pandemie mit einer gigantischen Überwachungswelle reagierte, keine große Corona-Welle mehr gesehen.

Die Grenzen zu

Längst war es auch nicht mehr Wuhan, das als Schreckgespenst galt. Die Verhinderung "einer Situation wie in Italien" war es stattdessen, die Gesundheitsminister Rudolf Anschober (Grüne) am Tag der Pandemiedeklaration nannte, um Grenzschließungen und Kontrollen am Brenner zu begründen. Tage darauf sollte die Sorge auch den ersten Lockdown in Österreich begründen.

Wochenlang hatten nicht nur die WHO, sondern auch viele Regierungen betont, dass Sperrungen nationaler Grenzen das falsche Mittel seien, um der Viruserkrankung zu begegnen. Mitte März 2020 änderte sich das schnell – und nachhaltig.

Grüne Pässe und Impfausweise sind es nun, ein Jahr später, die so etwas Ähnliches wie Sommertourismus im Jahr 2021 möglich machen sollen. Längst nicht überall wird damit gerechnet, dass das funktioniert. China hat als erster Staat am Dienstag ein Zertifikat der Firma WeChat präsentiert, das Chinesen Grenzübertritte möglich machen soll. Die EU will ihr Konzept am kommenden Mittwoch vorstellen.

Impfstoff nicht vor Mitte 2021

In der Union bangen nicht nur Staaten um hohe Anteile ihres BIP, die sich aus dem Tourismus speisen – die Gemeinschaft selbst zittert um ihre Daseinsberechtigung. Mag die Union auch vor allem wirtschaftliche Zwecke erfüllen – eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger sieht die Möglichkeit, sich frei bewegen zu können, als größten Nutzen des Zusammenschlusses. Andere Staaten sind seit einem Jahr von der Welt abgeschottet und werden das wohl noch länger sein. Australien und Neuseeland etwa rechnen mit einer Öffnung frühestens Ende 2021.

Was sind die Langzeitfolgen der Abschottung – und wie lange dauert es, bis die Welt wieder zusammenwächst? Das ist offen. Gelernt hat die Diplomatie aber in der Zwischenzeit, dass Verhandlungen über Zoom persönlichen Kontakt nicht ersetzen können. In den Außenministerien wartet man sehnsüchtig auf das Einlangen von Impfungen.
Überhaupt: Medikamente und Vakzine. "Bei der WHO rechnet man damit, dass ein marktreifer Impfstoff nicht vor Mitte 2021 vorliegt", hieß es zur gleichen Zeit vor einem Jahr in Meldungen über erste Forschungen "des Pharmaunternehmens Moderna" und der chinesischen Biotechfirma Cansino.

Über die Eile überrascht

Dass man heute darüber diskutiert, welcher von bald vier in der EU zugelassenen Impfstoffen besser sei als die anderen drei – das wäre vor einem Jahr wohl noch als fast unrealistische Hoffnung erschienen.

Erstaunlich vielleicht auch, wie wenige Medikamente binnen eines Jahres als wirksam erkannt wurden. (Hydroxy-)Chloroquin, Bleichmittel und Licht: Nicht alles, was von offizieller Seite vorgeschlagen wurde, entpuppte sich als hilfreich. Übrig blieben neu entwickelte Antikörperpräparate, die aber teuer und rar sind, sowie das Mittel Dexamethason, das eine überschießende Reaktion des Immunsystems verhindern soll. Eine große Studie, um den Nutzen weiterer Mittel zu eruieren, läuft in Großbritannien.

Erst überblickbar werden muss wohl auch, was die Pandemie an Schäden in Wirtschaft und Gesellschaft hinterlassen hat. Wachsende Protestbewegungen in vielen Staaten lassen die vorerst oft noch großteils subkutanen Spannungen erahnen, die sich bald öffnen werden.
Und die WHO selbst? Für sie war es ein turbulentes Jahr, in dem etwa die USA zuerst mit Donald Trump aus-, und dann mit Joe Biden wieder eintraten. Den Vorwurf übergroßer Nähe zu China konnte die Organisation auch mit ihrer jüngsten Ermittlungsmission zu den Ursprüngen des Virus in Wuhan nicht abschütteln. Öffentlich ist sie, zumindest im reichen Westen, vorerst kaum präsent. Auf dem Boden steht sie vor neuen Herausforderungen – etwa gleich zwei Ebola-Ausbrüchen in Guinea und im Kongo. (Manuel Escher, 11.3.2021)