Matteo Salvini, der Vorsitzende der italienischen Lega (links), und Ungarns Premier und Fidesz-Chef Viktor Orbán zimmern gemeinsam mit anderen an einer neuen Fraktion im Europäischen Parlament.

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Als Viktor Orbán "seine" zwölf EU-Abgeordneten vergangene Woche aus der Fraktion der Europäischen Volkspartei (EVP) im Europaparlament (EP) abzog, waren die meisten unter den verbliebenen 175 Mandataren erleichtert. Mit diesem Schritt würde Ungarns Premier ihnen schmerzvolle Debatten und eine intern seit Jahren umkämpfte Entscheidung darüber ersparen, die Kollegen von Fidesz formell auszuschließen.

Die Statutenänderung dafür hatten sie zuvor mit großer Mehrheit angenommen. Von den sieben ÖVP-Abgeordneten stimmte nur Othmar Karas, einer von 14 EP-Vizepräsidenten, dafür. Man freute sich bei den Christdemokraten, weil die EVP nach wie vor deutlich stärkste Fraktion vor den Sozialdemokraten (S&D) bleibe. Die liegen mit 145 Mandataren auf Platz zwei, vor den Liberalen (RE) mit 97.

Skeptiker in der Fraktion warnten jedoch schon damals, dass das Ende der Einbindung Orbáns dem Projekt Europa trotz seiner ständigen Provokationen und Verletzungen von EU-Werten schaden könnte. "Orbán wird nun versuchen, sich mit allen Mitteln für die Kränkung zu rächen", prophezeite einer, der seit Jahrzehnten in der EVP arbeitet.

Skeptiker und Extreme

Dieser "Tag der Abrechnung" könnte rascher kommen, als den gemäßigten Fraktionen im EU-Parlament lieb ist, zu denen auch die Grünen mit 73 Sitzen als fünftstärkste Fraktion gehören. Der ungarische Premier nämlich hat bereits Verhandlungen mit den zwei rechten Fraktionen in Straßburg aufgenommen, den Europäischen Konservativen und Demokraten (EKR, 63 Mandate) und der Gruppe Identität und Demokratie (ID, 75 Abgeordnete).

Dahinter stehen EU-skeptische bis extrem rechte Parteien, die sich bis zum EU-Austritt Großbritanniens noch relativ deutlich voneinander abgegrenzt hatten. Die britischen Konservativen in der EKR wollten mit manch offenem Rassismus und manchen Ausritten bei der ID-Fraktion, zu der die Lega aus Italien, Marine Le Pens französische Ex-Front, die FPÖ und seit den EU-Wahlen im Mai 2019 auch die AfD gehören, nichts zu tun haben. Doch dieses Kapitel ist mit dem Brexit geschlossen. Die EKR-Fraktion wird heute von der PiS, der nationalkonservativen Regierungspartei in Polen, dominiert.

Ungarns Premier als "Bindeglied"

Orbán strebt nun die Bildung einer neuen rechten Fraktion an, die die EKR und die extrem rechte ID-Fraktion vereinigt, natürlich unter Beteiligung der Fidesz-Abgeordneten. "Orbán ist das Bindeglied", zeigt man sich in der ID-Fraktion begeistert über diese Entwicklung, seit der ungarische Premier öffentlich gemacht hat, dass er "mit den Polen und den Italienern" Gespräche führe.

Den Plan einer vereinten Rechten in Straßburg hatte der FPÖ-Delegationsleiter Harald Vilimsky bereits im EU-Wahlkampf verfolgt. Die Freiheitlichen galten wegen ihrer Regierungsbeteiligung in Europa damals als salonfähig bei den Konservativen. Davor hatten alle Fraktionen jede Zusammenarbeit mit "extrem Rechten" verweigert. Nun, nach Orbáns Ankündigung, zeigte sich Vilimsky "sehr zuversichtlich" bezüglich der Entstehung einer großen Rechtsfraktion im Europaparlament. Auch Jörg Meuthen, der Vorsitzende der deutschen AfD, hat bereits angekündigt einer solchen Fraktion beitreten zu wollen.

Absolute Mehrheiten

Nun wiederum ist Matteo Salvini mit seiner Lega Teil der Koalition von Ministerpräsident Mario Draghi. In Brüssel sucht auch er mit neuer Intensität Verbündete. "Ich bin in Kontakt mit den Polen und den Ungarn", sagt er – und meint damit die EU-Parlamentarier von PiS und Fidesz. Beide Parteien regieren in ihren Ländern mit absoluter Mehrheit, beide ziehen immer wieder in Gegnerschaft zu Brüssel an einem Strang – zuletzt etwa, als sie sich gegen eine Koppelung des Bezugs von EU-Geldern an rechtsstaatliche Prinzipien wehrten. Ein markanter Unterschied besteht allerdings in der Russlandpolitik: Orbán pflegt gute Beziehungen zu Wladimir Putin, während Polen zu Moskau ein äußerst reserviertes Verhältnis hat.

Was ist der beste Umgang der EU mit Viktor Orbán? Warum wählen die Ungarn immer wieder den rechtskonservativen Politiker an die Macht? Darum ging es auch im Videotalk "STANDARD mitreden" diese Woche, unter anderem mit dabei war der Orbán-Vertraute Vince Szalay-Bobrovniczky.
DER STANDARD

Dennoch: "Es laufen gerade viele Gespräche", wird dem STANDARD bestätigt. Orbán ist die Spinne im Netz, er kann gut mit der FPÖ, diese wiederum pflegt engen Kontakt zu Marine Le Pen – und so weiter. Alle gemeinsam wittern sie die Chance, den Kurs der EU gemeinsam ändern zu können. Da es im Herbst in Deutschland, im Frühjahr 2022 auch in Ungarn und Frankreich große Wahlen gibt, bietet sich eine günstige Profilierungschance. Das EU-Parlament wäre die Bühne.

Redezeit und Budget

Würden sich alle Abgeordneten dieser drei Gruppen zur zweitstärksten Fraktion zusammentun, hätten sie als "Großfraktion" nicht nur Anspruch auf eine große Zahl an parlamentarischen Mitarbeitern, die von der EU bezahlt werden; im Plenum wird auch die Redezeit der Fraktionen minutengenau nach ihrer Größe bemessen. Die rechte Fraktion käme also in allen Debatten noch vor den Sozialdemokraten zu Wort, sie könnten die Stimmung prägen.

Ein politisches Erdbeben stünde in Straßburg wohl auch zu Jahresende an: Zur Hälfte der Legislaturperiode werden sämtliche Posten im Präsidium, die 14 Vizepräsidentenämter, alle Ausschussvorsitzenden und Stellvertreter neu verteilt. Bisher war es so, dass die "großen" etablierten Fraktionen die extrem rechte Fraktion von solchen Ämtern mit Mehrheit ausschloss. Gegenüber einer zweitstärksten Fraktion ließe sich das wohl kaum durchhalten. (Thomas Mayer, Gerald Schubert, Gianluca Wallisch, 10.3.2021)