Betreuungsplätze für Jugendliche in Problemlagen wurden in Tirol offenbar zu einem Geschäftsmodell.

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Innsbruck – Der letzte Todesfall war im August 2020 zu beklagen. Ein 13-jähriges Mädchen wurde nach einer Überdosis Medikamente leblos in einer Wohnung in Telfs gefunden. Zwischen Dezember 2017 und März 2018 kamen bereits drei minderjährige Mädchen unter ähnlichen Umständen in Tirol zu Tode. Sie alle wurden von der Einrichtung "Das Netz" betreut. Eine der wenigen, die sich mit dieser schwierigen Klientel befasst. Das Land als Träger der Kinder- und Jugendwohlfahrt (Kiju) hat diesen Bereich ausgelagert und bezahlt Einrichtungen wie das Netz für ihre Dienste.

Mit der Bezahlung allein ist es aber nicht getan. Der Behörde kommt auch eine Kontrollfunktion zu, die im Fall von Netz offensichtlich zu lange nicht erfüllt wurde. Denn wie Recherchen des STANDARD ergaben, hat der Leiter der Einrichtung, der Psychologe Gerald Thurnher, über Jahre ein undurchsichtiges Firmenkonstrukt aufgebaut, das sich offenbar aus öffentlichen Geldern speist. Zugleich fehlt auch intern jede Transparenz.

Betriebsrat ließ nicht locker

Angestoßen wurde diese Recherche durch den ehemaligen Betriebsrat von Netz, Gregor Sanders. Als er im Jänner 2021 firmenintern, zum wiederholten Mal, davon hörte, dass das Netz zahlungsunfähig sei, schrillten bei ihm die Alarmglocken. Er verlangte von Thurnher Einsicht in die Bücher, die ihm als Betriebsrat zusteht. Thurnher verweigerte diese aber, stellte Sanders dienstfrei und sprach gegen ihn ein Betretungsverbot für zum Netz gehörenden Betriebsräumlichkeiten aus.

Sanders ließ dennoch nicht locker und wandte sich an die KiJu, die zum Ressort der grünen Soziallandesrätin Gabriele Fischer zählt. Zudem übermittelte er eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft, da für ihn der Verdacht der Veruntreuung von Steuergeldern im Raum stand. Die Ermittlungen dazu wurden aber eingestellt.

Das Land forderte von Netz eine Erklärung. Thurnher entkräftete die Vorwürfe offenbar glaubhaft, das Land zeigte sich zufrieden. Sanders wandte sich daraufhin an diese Zeitung, mit der Bitte weiterzurecherchieren.

Undurchsichtiges Konstrukt

Dabei taten sich weitere Missstände auf. Es beginnt bei der Unternehmensform. Üblich ist im sozialen Kontext, dass Einrichtungen als gemeinnützige Vereine oder GmbHs organisiert sind. Das dient der Transparenz, wie auch das Land als Fördergeber bestätigt. Doch Thurnher führt das Netz als Einzelunternehmen. Das bedeutet, wie er selbst bestätigt, dass sein einziges Einkommen als Unternehmer der Gewinn ist, den das Netz abwirft. Allerdings darf das Netz gar keinen Gewinn abwerfen. Denn wie das Land erklärt, müssen Gelder, die Thurnher erhalten, aber nicht verbraucht hat, zurückbezahlt werden. Oder sie dienen als Rücklagen.

Was das Land Tirol erst durch Recherchen des STANDARD erfahren hat: Thurnher betreibt neben dem Netz auch eine Immobilienfirma namens Ikarus. Einen Zusammenhang mit dem Netz stritt der Psychologe erst ab, räumte dann aber ein, die Immobilienfirma zu dem Zweck gegründet zu haben, um mit Rücklagen eine Wohnung zu kaufen, in der er Jugendliche, die von Netz betreut werden, einmietet. Antworten, ob es weitere Wohnungen gibt und Details zu den Geschäften von Ikarus, blieb er schuldig.

Keine schriftlichen Verträge mit dem Land

Überhaupt scheint Transparenz im Netz unerwünscht. Denn bis 2019 gab es zwischen Thurnher und Land Tirol keine schriftlichen Verträge, wie das Büro der Soziallandesrätin bestätigt. Obwohl es um einen höchst sensiblen Bereich, die Arbeit mit psychisch kranken Jugendlichen geht, hat man sich auf mündliche Vereinbarungen verlassen.

Weil das Land auf seine Dienste mangels Alternativen angewiesen war, ließ man ihn gewähren. Thurnher verweigert seinen rund 40 Mitarbeitern im Netz ebenfalls schriftliche Dienstverträge, vom Kollektivvertrag ganz zu schwiegen. Er erachtet dies als unnötig und im Sozialbereich als nicht praktikabel.

Streit vor dem Landesverwaltungsgericht

Die Intransparenz gipfelte in einem Verfahren vor dem Landesverwaltungsgericht. Denn das Netz war in den vergangenen Jahren chronisch überlastet. Offiziell waren etwa 14 Plätze zur vollen Erziehung vorgesehen, praktisch betreute Thurnhers Team bis zu 30. Das Land sagt, man hatte keine Kontrolle, weil Thurnher einfach immer zusagte, wenn er von der Kiju kontaktiert wurde, die dringend einen Platz für einen Jugendlichen suchte.

Ein Jahr lang wurde prozessiert, bis Thurnher schließlich 2019 erstmals einer schriftlichen Leistungsvereinbarung zustimmte.

Zur selben Zeit kamen erste Gerüchte zu finanziellen Problemen auf, die im Jänner 2021 wie beschrieben eskalierten. Ex-Betriebsrat Sanders wurde vor wenigen Tage über seine Entlassung informiert. Dagegen wird er mithilfe der Gewerkschaft klagen, da er eigentlich Kündigungsschutz genießt. Das Land spricht von problematischer Intransparenz und versucht derzeit, weitere Plätze für diese Klientel in anderen Einrichtungen zu schaffen. (Steffen Arora, 11.3.2021)