Die Polizei ortet viele Verstöße gegen die Corona-Regeln bei Jugendlichen.

Foto: Christian Fischer

Lounes, Alperen und Cengiz* stehen auf dem Wiener Stephansplatz im Halbkreis nebeneinander, die Köpfe gesenkt. Die Stimmung ist schlecht. Ihnen gegenüber: Polizeibeamte, einer von ihnen formuliert gerade eine Strafe wegen der Missachtung der Corona-Bestimmungen. Als die drei Jugendlichen aufgehalten wurden, hätten sie keine zwei Meter Abstand gehalten. "Habt ihr die Medienberichte nicht mitbekommen?", fragt ein Beamter. "Hier wird jetzt mehr kontrolliert." Die Jungs schütteln den Kopf.

In letzter Zeit haben sich Berichte über sogenannte "Tiktok-Gangs", die sich auf dem Stephansplatz verabreden würden, um dort aufeinander einzuprügeln, gehäuft. Eine bekannte Influencerin soll das Ganze mit Aufrufen zu Treffen weiter angefeuert haben. Was steckt da dahinter? Und wieso hängen viele Jugendliche plötzlich mitten im Ersten ab?

DER STANDARD verbrachte in den letzten Wochen mehrere Abende auf dem Stephansplatz. Die eingangs beschriebene Szene ist kein Einzelfall: Jugendliche, zu zweit oder in Kleingruppen in der Innenstadt unterwegs, werden von der Polizei angehalten und auf die Einhaltung der Corona-Regeln kontrolliert. Dutzende Jugendliche, zwischen 15 und 25 Jahre alt, berichten von Erlebnissen wie diesen.

Saftige Bilanz

Nach der Kontrolle ist Lounes verstört – und sauer. "Ich bin seit Wochen zum ersten Mal wieder draußen", sagt der 19-Jährige. Gerade hat er seine Diplomarbeit fertiggeschrieben, wie der gleichaltrige Alperen besucht er eine Hak in Favoriten. Die Anzeige wollen die drei Jungs jedenfalls beeinspruchen. "Wir sind nicht einmal nebeneinander gegangen", sagt er.

Seit Mitte Februar führt die Polizei Schwerpunktkontrollen rund um den Stephansplatz durch. Die Bilanz ist saftig: Seither wurden über tausend Identitäten festgestellt, 200 Organmandate ausgestellt und weit über 300 Anzeigen gelegt. Bei einem Großteil handelte es sich um Jugendliche, die gegen Corona-Regeln verstoßen haben sollen. Offensichtlich würden diese sich über soziale Netzwerke verabreden, sagt Kontrollinspektor Markus Dittrich. Vereinzelt habe es auch strafrechtliche Delikte gegeben. Von prügelnden Gangs ist keine Rede.

Wenn man an einem frühlingshaften Abend über den Stephansplatz spaziert, ist eigentlich immer viel los, ein Überhang an Jugendlichen lässt sich nicht feststellen. Nur vereinzelt stehen kleinere Gruppen beisammen.

Verzwickte Situation

So wie Semeh, Andrenio und Bashir. Die drei Freunde stehen beim Abgang zur U-Bahn-Station und unterhalten sich. Über die Arbeit, Corona, die Polizei. Dabei halten sie Abstand. Ob es durchgehend zwei Meter sind, ist mit freiem Auge schwer zu erkennen. Hinter ihnen parkt ein Polizeiauto. Eine halbe Stunde lang gibt es keinerlei Interaktion. Doch dann kommen Polizisten. Ohne Umschweife kommen sie zur Sache: "Covid-Kontrolle."

"Wieso kontrollieren Sie genau uns?", will Semeh wissen und deutet auf Passanten, die keinen Abstand halten. "Sie haben uns die ganze Zeit zugeschaut und darauf gewartet, bis wir den Abstand einmal nicht ganz genau einhalten", sagt Bashir.

Es entwickelt sich eine hitzige Diskussion. Die Beamten verweisen darauf, dass man zuvor mit anderen Amtshandlungen beschäftigt gewesen sei. Zudem, sagt ein Polizist, herrsche Gewaltenteilung: Sie könnten jederzeit Einspruch gegen die Anzeige erheben. Semeh ist nicht überzeugt: "Dann steht mein Wort gegen Ihres", sagt er. "Wem wird wohl geglaubt?"

Es ist eine verzwickte Situation: Tatsächlich gibt es an einem Ort wie dem Stephansplatz vermutlich bei vielen Gruppen etwas zu beanstanden. Doch für die Polizei ist es unmöglich, alle zu kontrollieren. Gleichzeitig verstehen die Jugendlichen nicht, warum der Fokus gerade auf sie gelegt wird. Polizeipräsident Gerhard Pürstl begründete das kürzlich so: "Ich verstehe, dass die Jugend überdrüssig ist. Aber wenn Hunderte zusammenkommen und Partys feiern, dann wird erwartet, dass die Polizei einschreitet."

Pürstl spielte damit wohl auf ein Spektakel rund um die 17-jährige Wienerin Sara D. an, das großes mediales Echo nach sich zog: Die Influencerin, die auf der Social-Media-Plattform Tiktok mehr als 140.000 Personen erreicht, kündigte Anfang Februar in einem Video an, dass sie zum Stephansplatz kommen werde. Das nahmen damals offenbar zahlreiche Teenager zum Anlass, um ebenfalls in die Innenstadt zu strömen. Dabei, das legt ein Video nahe, kam es auch zu einer Handgreiflichkeit. Schnell kam der Vorwurf auf, D. stifte Jugendliche in ihren Tiktok-Clips zu Gewalttaten an – diese würden sich deshalb zu Schlägereien in der City verabreden.

Hinweise, die diese Behauptung untermauern würden, lassen sich keine finden. Sara D. entschuldigte sich für das Missverständnis. Ihren Instagram-Account hat die junge Influencern inzwischen auf privat gestellt.

Von außen nach innen

Es gibt noch eine Komponente, die für Unmut unter den Jugendlichen sorgt: Sie haben das Gefühl, dass sie im ersten Bezirk nicht erwünscht sind. Denn es gibt offenbar keinen generellen Trend, sich im Ersten zu prügeln, aber sehr wohl einen, sich im Ersten zu treffen. Auch unter Jugendlichen aus den Flächenbezirken. Viele kommen aus der Donaustadt, aus Liesing oder aus Favoriten hierher.

Ein Phänomen, das auch Jugendarbeiter beobachten: Durch Corona – sprich: weniger Konsum, keine Touristen – sei schlicht mehr Platz im öffentlichen Raum. Auch im Ersten, sagt Martin Himmelfreundpointner, der ein Jugendzentrum des Vereins Wiener Jugendzentren im 23. Bezirk leitet. Die Jugendlichen hätten insofern recht, als Zusammenkünfte oft in ein schlechtes Licht gerückt würden: "Aneignungsprozesse von Jugendlichen im öffentlichen Raum werden oft als bedrohlich erlebt", sagt er. Und plädiert für mehr Nachsicht: "Jugendliche sind derzeit massiv belastet. Ihnen bleibt nur der öffentliche Raum, um ihren vier Wänden zu entfliehen."

Der Frust ist jedenfalls groß, auf allen Seiten. "Mir steht Corona schon bis hier", sagt etwa der Polizei-Einsatzleiter und hebt seine Hand einen halben Meter über seinen Kopf, nachdem er zu Semehs, Andrenios und Bashirs Kontrolle gestoßen ist. Semeh erzählt, dass er seit November in Kurzarbeit sei. Er wisse nicht, wo er sich sonst mit Freunden treffen solle, wenn nicht draußen. "Früher waren wir am Kagraner Platz. Aber jetzt sind wir öfter auf dem Stephansplatz", sagt er. "Wieso auch nicht? Hier ist es doch schön." (Vanessa Gaigg, Mickey Manakas, 12.3.2020)