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Bescherte der internationalen Übersetzergilde eine hart zu knackende Nuss: Amanda Gorman (23), Poetin, Afroamerikanerin.

Foto: Semansky/AP

Alle Weltbürger, die guten Willens sind und ihre sämtlichen Pronomen noch beisammenhaben, stehen in diesen Tagen vor einem Dilemma. Sie alle hegen einen einzigen, unschuldigen Wunsch: Sie wollen Amanda Gormans Gedicht "The Hill We Climb", vorgetragen aus Anlass der Inauguration von US-Präsident Joe Biden, recht bald in ihrer jeweiligen Muttersprache nachlesen können.

Gormans Gedicht firmiert als Zeichen der Hoffnung. Es beschwört aus der Perspektive einer jungen Afroamerikanerin die Vision einer Welt, die es nicht mehr nötig hat, chauvinistisch oder gar rassistisch zu sein.

Doch der Verbreitung dieser wunderbaren Einsicht stehen immer öfter gebirgshohe Hindernisse im Weg. Unlängst trat die Autorin Marieke Lucas Rijneveld nicht ganz freiwillig von dem Auftrag zurück, "The Hill We Climb" ins Niederländische zu übersetzen. Aktivistinnen und Influencer waren zu dem garantiert herrschaftsfreien Ratschluss gelangt, für eine getreue Übertragung des Gedichts wäre jemand anderer besser geeignet: jemand, der mehr "unapologetically Black" ist.

Nicht mehr tragbar

Das Beispiel macht seither Schule. Der katalanische Anglist Victor Obiols wurde soeben seinerseits von der Aufgabe entbunden, Gorman zu übersetzen. Laut Verlagsmitteilung sei aktuell ein anderes Übersetzerprofil gefragt: jünger, weiblicher, aktionistischer, vorzugsweise schwarz. "Mir wurde mitgeteilt, ich sei nicht mehr tragbar", so Obiols.

Tatsächlich: Die Tatsachen scheinen bedenklich. Der in Barcelona und Southampton einschlägig ausgebildete, auf Fotos kräftig wirkende Mann zählt sage und schreibe 60 Jahre. Er ist, um nur das Mindeste zu sagen, mehr als zweieinhalb Mal so alt wie Amanda Gorman. Und wahrscheinlich mehr als doppelt so schwer.

Obiols bittet jetzt, man solle mit der Causa nicht "frivol" umgehen. Aus dem Englischen hat er bereits Shakespeare und Oscar Wilde übertragen. Beschwerden sind bis jetzt keine bekannt geworden. Obiols ist ratlos: "Unter solchen Voraussetzungen kann niemand Homer übersetzen, der nicht zugleich Grieche ist und aus dem achten vorchristlichen Jahrhundert stammt!" Stimmt schon. Aber auch das Oscar-Wilde-Übersetzen hätte der Mann wohl besser sein lassen sollen. Obiols hat, das gilt als erwiesen, keine 18 Monate Haft im Zuchthaus von Reading abgesessen, so wie Wilde – wegen "Unzucht". (Ronald Pohl, 11.3.2021)