Lähmende Monotonie in Corona-Zeiten: "Nur fernsehen, lesen, Wohnung putzen – das hält auf Dauer niemand aus."

Foto: Heribert CORN

Es war, als hätten sie ihn aus dem Wohnzimmer geschmissen. Tag für Tag, spätestens um 14 Uhr, hatte Herr S. an die Zimmertür seiner Frau geklopft. Er sang mit der 83-Jährigen Kärntnerlieder, half ihr beim Umziehen, setzte sie aufs Klo – und holte sie zurück ins Hier und Jetzt, wenn die Demenz die Gedanken auf Abwege schickte.

Dann kam Corona. Die tägliche Zweisamkeit in vertrauter Umgebung schrumpfte auf eine halbe Stunde pro Woche im Aufenthaltsraum, zwischendurch sperrte das Heim Besucher völlig aus. Die Familie versuchte via Skype Kontakt zu halten, doch rasch rutscht Frau S. das Handy aus der Hand. Auch die Spazierfahrten im Rollstuhl sind, obwohl erlaubt, oft nach ein paar Augenblicken vorbei. Der jähe Harndrang, unter dem ihre Mutter leide, zwinge zum Umkehren, erzählt die Tochter, und mehrmaliges Aus- und Anziehen könne man den ohnehin überlasteten Pflegerinnen nicht zumuten.

"Stark abgebaut" habe die Mutter in den vielen Stunden, in denen sie nun vor sich hinstarre und nicht so recht verstehe, warum Ehemann und Kinder fernbleiben: "Sie driftet geistig immer öfter ab. Dazu kommt die Angst, verlassen zu werden."

Rapide altern wegen Corona

Wer sich nach einem Jahr Pandemie unter Menschen mit älteren Angehörigen umhört, stößt auf viele solche Geschichten. Rapide gealtert seien Oma und Opa, seit sie zum eigenen Schutz nicht mehr die Enkerln vom Kindergarten abholen, berichten manche, anderen setzt der Verzicht auf Theater oder Tanzabende zu. Einige holt nicht einmal mehr der tägliche Einkauf aus der Isolation. Denn diesen erledigt nun die Nachbarschaftshilfe.

"Seit Herbst werfe ich Antidepressiva ein", sagt die 80-jährige Helga Gaal, "ich habe einfach nichts zu tun." Früher war die Wienerin ein Aktivposten im Pensionistenverein, doch nun ist von der Frühjahrsreise bis zur Museumsführung alles tot. Sie könne die jungen Leute, die sich trotz Corona nun zum Feiern treffen, gut verstehen: "Nur fernsehen, lesen, Wohnung putzen: Das hält auf Dauer niemand aus."

Noch schlimmer ergehe es aber ihrer Cousine samt Ehemann, die wegen Abriegelung und Quarantäne über Wochen ohne Besuch im Heim gedarbt hätte. Sie weine oft, er liege nur noch im Bett: "Es wirkt, als ob er abgeschlossen hat."

Mühsamer Weg zurück

"Ich bin traurig": Mit einem einzigen Satz habe ihre 95-jährige Mutter zuletzt ihre Lage beschrieben, erzählt die 67-jährige Margit Lehner. Auch im Heim nahe Innsbruck sind Besuche nur noch abseits der mit eigenen Möbeln eingerichteten Zimmer erlaubt, auch hier sorgten Corona-Fälle für Sperrzeiten. "Vor der Quarantäne sind wir bei den Runden mit dem Rollstuhl immer ein paar Schritte gegangen", berichtet die Tochter: "Jetzt schafft sie das nicht mehr. Mühsam versuchen wir, das wieder aufzubauen."

Isolation sei ein Risikofaktor wie Rauchen oder schlechte Ernährung, sagt der Arzt Marcus Köller: "Einsamkeit kann die Restlebenserwartung um 30 Prozent verkürzen." Die Lockdowns hätten die Älteren noch einmal härter getroffen als die Jungen, die auf virtuellen Kontakt auszuweichen wussten, befindet der Präsident der Österreichischen Gesellschaft für Geriatrie. Psychischer und körperlicher Abbau gingen Hand in Hand, wer in Depression versinke, raffe sich auch nicht mehr zum Spazierengehen auf. Rasch schreite die Gebrechlichkeit voran: Bleibe ein 80-Jähriger mit Vorerkrankungen drei Tage im Bett, verliere er so viel Muskelmasse wie ein junger Mensch in drei bis sechs Monaten.

Totalitärer Charakter

Für besonders gefährdet hält Köller die Bewohner der Alten- und Pflegeheime, die sich mit strengem Regime gegen das Virus zu schützen versuch(t)en. In der bei der Wiener Pflege-, Patientinnen- und Patientenanwaltschaft angesiedelten Heimkommission ist aus den ersten Tagen der Pandemie sogar ein Fall bekannt, in dem Betreiber ihre Dependance mit einem Drahtzaun abgeriegelt und die Fenstergriffe abmontiert hatten. Andernorts blühte Bewohnern, die auch nur kurz außer Haus gingen, 14-tägige Zimmerisolation. "Über viele Jahre wurde dafür gekämpft, Heimen den totalitären Charakter zu nehmen", sagt die Pflege- und Patientenanwältin Sigrid Pilz: "Das Virus hat einen Backlash ausgelöst."

Rechtlich erlaubt ist es nicht, Bewohnerinnen und Bewohnern den Ausgang zu verbieten. Doch auch nach einem Jahr erreichten den STANDARD unlängst wieder Berichte, wonach genau das passiert sei. Verifizieren ließen sich die Fälle nicht, denn dafür wäre es nötig, die Heimleitungen mit den Namen der Betroffenen zu konfrontieren. Davor schreckten die Hinweisgeber aber zurück.

In der Wiener Heimkommission heißt es: Seit Beginn der zweiten Welle sei kein derartiger Fall registriert. Sehr wohl verhängen Heime in Absprache mit der Gesundheitsbehörden aber Besuchsverbote, wenn Covid-Fälle verzeichnet werden.

Ärger über Besuchsregeln

Für Frust sorgen allein schon die vom Gesundheitsministerium vorgegebenen Regeln. Lange war nur einmal die Woche ein einziger Besucher erlaubt, erst seit kurzem dürfen an zwei Tagen jeweils zwei Personen kommen. Angehörige hätten verzweifelte Briefe und Mails geschrieben, erzählt Pilz. Viele verstünden nicht, warum Besuche auch dann eingeschränkt bleiben, wenn beide Seiten geimpft sind. In einer Zuschrift hieß es: "Vor Corona fürchte ich mich nicht. Aber ich fürchte mich davor, dass ich meine Kinder nicht mehr sehe."

Bei Andreas Wohlmuth landen ebenfalls Klagen, auch über spezielle Restriktionen in den einzelnen Häusern. Er sei jedoch der Letzte, der sich über Pflegepersonal auslassen werde, sagt der Generalsekretär des sozialdemokratischen Pensionistenverbands. Die Heime kämpften aufopfernd gegen ein Virus, das "ganze Stockwerke leerfegen" könne.

Erst zu lasch, dann zu hart

Weniger Verständnis hat Wohlmuth für die Politik, die frühere Nachlässigkeit nun mit überzogener Härte kompensiere. Es sei eine Schande, dass 43 Prozent der Corona-Toten aus Alten- und Pflegeheimen stammten, wettert er, statt Geld für undifferenzierte Massentests zu verschwenden, hätte die Regierung vor jedem Heim ein Testzelt aufstellen sollen. Nun, wo es mit Impfung, Testpflicht, Masken, Abstand und Desinfektion aber einen Fünffachschutz gebe, sei es nicht einzusehen, dass das Besuchsregime nicht stärker gelockert werde: "Das ist eine seelische Katastrophe. Die Leute sind on fire."

Ingrid Korosec, Chefin des Seniorenbundes der ÖVP, fordert ebenfalls großzügigere Regeln. "Der soziale Tod ist auch ein Tod", sagt sie. Vielen Senioren sei ihre Endlichkeit bewusst: "Sie warten nur auf den Moment, wenn sie Besuch kriegen." Allerdings erkennt Korosec auch Erfreuliches. Erstmals sei Alterseinsamkeit in den Fokus gerückt – wovon der runde Tisch der Regierung im September gezeugt habe.

Wie vielen Menschen die Tristesse zu schaffen macht? Zumindest nach dem ersten Lockdown sei die Vereinsamung nicht stark gestiegen, schließt Franz Kolland, Altersforscher an der privaten Karl-Landsteiner-Universität, aus einer Befragung und schätzt die Gruppe auf zehn bis 15 Prozent der Senioren. Ein Grund zur Bagatellisierung sei das aber nicht: "Die Betroffenen leiden ja stark darunter."

Abschied vom Riesenheim

Für die Zeit nach Corona fordert Kolland mehr Geld für jene Initiativen ein, die sich um die Aktivierung der Älteren bemühen, und auch die Pflegeanwältin Pilz zieht ihre Schlüsse. Zumindest vor größeren Heimen brauche es Teststationen für Besucher, sagt sie, außerdem gelte es zu überdenken, ob große Häuser der Weisheit letzter Schluss seien. Corona könnte der Anlass sein, Hochaltrige vorrangig mit mobiler Betreuung in den jeweiligen Grätzeln unterzubringen.

So weit ist die Politik noch nicht. Erst geht es einmal um das tägliche Besuchsrecht, auf das die Seniorenvertreter drängen – bis dato erfolglos. Das Gesundheitsministerium begründet die Vorsicht damit, dass es bei dieser vulnerablen Gruppe schnell "einschlagen" könne. So müsse überprüft werden, wie viele Menschen in den Heimen nun tatsächlich geimpft seien.

Der Tochter des Ehepaars S. leuchtet das nicht ein. Ihre Eltern hätten längst beide den zweiten Stich erhalten, erzählt sie, da sei es unverständlich, dass ihr Vater als Besucher nicht mehr Rechte erhalte als irgendein Nachbar. Nichts anderes als "Folter" bedeuteten die aktuellen Beschränkungen für ihre Mutter: "Die Besuche sind ihr letzter Anker ins Leben." (Gerald John, 12.3.2021)