Das Cover des neues Albums der Berliner Band Camera: "Prosthuman".

Foto: Cargo

Der zweite Song schlägt plötzlich ins Artfremde. Da gönnt sich die Berliner Band Camera einen Ausflug zum Reggae. Nicht per se ungewöhnlich, aber doch für eine Gruppe, die dem Krautrock zugerechnet wird. Schließlich wurde unter diesem Begriff in den späten 1960ern und 1970ern Musik erfasst, die sehr oft einen Zugang suchte, der explizit nicht an den Pfaden der schwarzen Musik lag. Blues? Reggae? Rock ’n’ Roll? Verboten! Das gebar eine gewisse Strenge, eine Vorliebe für stark repetitive, dabei synkopenfreie und neue Musik.

Das Album von Camera trägt den heiteren Titel Prosthuman. Es bietet eine zeitgenössische Deutung des Krautrock, der mit Werken von Can, Neu!, Kraftwerk und anderen enorme Innovationskraft freisetzte. Und im Falle von Kraftwerk hielt sogar der Funk Einzug; durch die Schaltkreise und streng kontrolliert.

Traditionell und elektronisch

Die repetitive Ästhetik des Techno führte in den frühen 1990ern zu einem Revival und einer Neubewertung vieler Krautrockbands, deren Kunst von einer neuen Generation entdeckt und adaptiert wurde und eine jüngere Verwandtschaft im Stammbaum anlegte – und Kraftwerk erlangten Legendenstatus.

Neben Prosthuman, das Krautrock mittels Synthesizer, Gitarre und Schlagzeug traditionell anlegt, erschien eben eine neue Archivsammlung der Gruppe Stereolab: Electrically Possessed (Switched On Vol. 4) verbindet gewissermaßen die beiden großen Krautrockströmungen: rein elektronische Musik und solche mit traditionellen Instrumenten.

Stereolab

Schon das Anhängsel "lab" im Namen der in den 1990ern gegründeten britischen Formation verdeutlicht einen pseudowissenschaftlichen Ansatz. Musik als Untersuchungsgegenstand, an dem im Labor geforscht wird. Dabei zeigt sich einmal mehr der enorme Einfluss des Krautrock, den Stereolab mittels Synthesizer und einer Vorliebe für Retrofuturismus zum Schweben und Schwingen bringen. Da liegen die Hände oft wie Steine auf den Tasten, lassen die Schaltkreise warmlaufen, eiern und flirren. In einer widersprüchlichen Art von nüchterner Trance werden dazu die Texte eingebettet und alles behutsam moduliert.

Zeitlos und modern

Die Ergebnisse sind von betörender Qualität. Sie klingen gleichermaßen modern wie zeitlos – nehmen Anleihen bei einlullenden Lounge-Klängen und einer im Niedrigvoltbereich angesiedelten Psychedelic. Dagegen klingen Camera doch altbacken, andererseits ist keine Band ganz schlecht, die das Erbe von Can hochhält, wiewohl es sich im Falle von Camera eher um eine Form der Verwaltung handelt denn um eine innovative Fortschreibung.

Bureau B

Ende letzten Jahres erschien schließlich eine Reihe, die die Fundamente dieser Kunst bündelt. Das deutsche Wiederveröffentlichungslabel Bear Family rückt mit Kraut! – Die innovativen Jahre des Krautrock 1968–1979 bekannte und weniger bekannte Kräfte und Innovatoren des Fachs ins Rampenlicht. Portioniert in vier Doppel-CDs mit umfangreichen Begleitbüchern unterscheidet es nach den Regionen Der Norden, Die Mitte, Der Süden und Berlin (West).

Manches davon klingt nach Sauerkraut (gesund, abführend), anderes nach jenem Kraut, das aus dicken Papiertrichtern inhaliert wird. Nicht alles möchte man öfter als einmal hören, der Anspruch, etwas Eigenständiges zu erschaffen, der Versuch, das Deutsche vom Stigma der Verbrechen des Zweiten Weltkriegs zu entflechten, ist omnipräsent. Manche scheitern kurios, andere wurden zu Klassikern. (Karl Fluch, 12.3.2021)