Dieses wiederholte, leise Scheppern vorm Haus: Ein Zettelverteiler hebt die Klappen der Briefkästen und lässt sie wieder fallen, eine nach der anderen. Später piept das elektronische Gerät des Paketzustellers. Durchs geöffnete Fenster dröhnen verzerrte Skype-Unterhaltungen und die Stimme eines genervten Vaters, der seinem begriffsstutzigen Sohn Multiplikationen erklärt. Lockdown-Geräusche.

Im ersten musste ich Bleiben lernen. Bis dahin warteten stets Bahn- und Flugtickets in meiner Schublade, immer hatte ich Pläne im Kopf, wo es noch hingehen würde. Oft lebte ich ohnehin zwischen zwei Orten. Plötzlich aber war das mobile Lebensmodell gestoppt. Die ersten Wochen beschäftigte ich mich damit, alle Anzeichen dieses Entwurfs zu stornieren, Absagen hinzunehmen, Ersatz einzufordern oder mich um Verschiebung zu bemühen, auf ein zwar zeitlich unbestimmtes, aber doch eintretendes Danach, welches dem Vorher unbedingt ähnlich sein würde. Dachte ich. Eigentlich aber kündigte sich damals bereits das Zeitalter der Vergeblichkeit an. Anfang März war mein neuer Roman erschienen. Die Freude darüber verflog sogleich. Schreibaufträge, Präsentationen, Lebensunterhalt standen mit einem Mal auf der Kippe. Panik bei gleichzeitiger Handlungsunfähigkeit stellte sich ein.

Im Sommer versuchte ich dann, wie so viele, Verlorenes nachzuholen, mit Vorsicht zwar, aber dennoch, den Tag zu leben und erneut Pläne zu schmieden, die dann über den Haufen geworfen würden. Wahrscheinlich. Immerhin schaffte ich es, in einem Kärntner See zu schwimmen und Freundinnen in Berlin zu besuchen, wo das Leben auf Straßen und Plätzen weiterhin tobte und brauste, so eindrucksvoll, als gebe es kein Virus.

Verordnetes Gebot

Im zweiten Lockdown setzte langsam die Erkenntnis der Anfälligkeit meines Lebensentwurfs ein: Single, grenzüberschreitend, freiberuflich. In Summe ergab das unter den erschwerten Umständen zu viel Ungewissheit. Und langsam dämmerte, dass das frühere Normal nie mehr zurückkehren würde. Übungen in Gelassenheit, die Qigong-Gruppe via Zoom wurden zum Anker, stundenlange Spaziergänge lösten Gedankenknoten.

Dabei war mir Isolation durchaus vertraut. Ich hatte sie oft freiwillig herbeigeführt, um mich auf eine ausgiebige Schreibarbeit zu konzentrieren. Das Abschalten äußerer Reize, um sich auf eine innere Welt zu beschränken, gehörte immer zu den Bedingungen meiner literarischen Produktion. Die Isolation aus freiem Antrieb bezieht ihren Reiz auch daraus, dass sie sich bewusst gegen ein soziales Umfeld stellt, diesen Ausnahmezustand aber jederzeit unterbrechen kann.

Mit den Lockdowns aber gehörte die Abgeschlossenheit nun für nahezu jeden zum Alltag. Der Kreative war nicht mehr der Besondere, der seine Isolation – entgegen allen zwischenmenschlichen Impulse – durchzog. Dieser Vorgang wurde zu einem verordneten Gebot, was dem individualistischen, sich von der Allgemeinheit abgrenzenden Verhalten des Kreativen widersprach. Isolation war nicht mehr das andere des Zusammenseins. Dieses ist seitdem verboten, stellt also ein Gegenbild und damit den größeren Anreiz dar.

Dabei erlebte ich durchaus auch Schreibklausuren, die scheiterten. Kurz nach meiner Rückkehr aus Portugal, als mir das Bleiben wieder einmal nicht gelang, ergriff ich das Angebot, während der Wintermonate ein Ferienhaus an der spanischen Küste zu hüten.

Das in einer Siedlung nur für Sommerurlauber stehende Haus war von leerstehenden Gebäuden umgeben. Die einzigen Geräusche, die ich vernahm, waren das Knirschen und Schmatzen der Holzwürmer in den Möbeln sowie das Donnern und Grollen heftiger Winterstürme. Ich wanderte durch aufgelassene Gärten, fuhr alle zehn Tage ins Dorf, um eine Gasflasche und Lebensmittel zu kaufen. Telefon gab es keines. Irgendwann hatte ich das Reden fast verlernt. Auch die Idee, dass ich diesen unangenehmen Aufenthalt einfach beenden und abreisen könnte, kam mir nicht mehr. Stattdessen schrieb ich den Großteil meines ersten Buches und las schlechte Unterhaltungsromane, weil mir der Lesestoff längst ausgegangen war.

Nach Wochen riss mich dann eine Freundin aus dieser Erstarrung. Ihre Idee: Wenn schon einmal in Südspanien, sollten wir nach Marokko weiterfahren. Zu Zeiten des ersten Irak-Kriegs war dort alles leer. Wie ausgestorben. Diese freie Wahl von Reisezielen damals erscheint mir nun paradiesisch. Aber es ginge ja noch ärger. Immerhin erlaubten die Lockdowns in Wien ausgedehnte Spaziergänge. Mein in Frankreich studierender Sohn, der rechtzeitig aus Paris in ein bretonisches Dorf geflohen war, durfte nur im Garten herumstreunen, eine Stunde pro Tag. An den drei Kilometer entfernten, mit Drohnen überwachten Strand konnte er nicht.

Als er im Herbst nach Wien zu Besuch kam, wurde er positiv getestet. Zwei Tage vorher hatte er eine Party in Paris besucht. Wir mussten in Quarantäne, in verschiedenen Wohnungen. Er verlor den Geschmacks- und Geruchssinn. Für ihn, der sich in Ausbildung zum Koch befindet, eine Katastrophe. Also konzentrierte er sich auf die Texturen von Speisen, die er noch wahrnehmen konnte: knackig, cremig, knusprig. Ansonsten schmeckte alles fad.

Wir telefonierten und whatsappten viel. Die Höhepunkte meiner Tage bestanden im Hinuntertragen von Müll und Altpapier. Lesungen waren neuerlich abgesagt. Durch die Fenster floss Nebel, spätherbstliche Düsterkeit. Ich arbeitete mich Tag für Tag durch diesen finsteren Tunnel, wurde trotzig. Beantwortete keine Mails mehr, wollte nicht mehr wegen Stornierungen bei Airlines anrufen, mir keine Zoom-Lesungen mehr antun. Arbeitete kindisch gegen mich selbst. Ich ließ trockene Blätter bei der Balkontüre hereinwehen, sich im Zimmer verbreiten, die ich nicht aufräumte, um stellvertretend für meine irrationale Wut etwas zu tun, was keinen Sinn ergab.

Ich hasse Corona, schrieb ich meiner Tochter. Natürlich wusste ich, dass Trotz nichts änderte, weil Corona immer gewinnt. Aber zuweilen ist es schwierig, sich mit dem Unsichtbaren und dessen Auswirkungen abzufinden. Ich lernte zu verstehen, dass man sich dagegen zu wehren beginnt. Aber wie genau, wenn die Gegner nicht zu greifen sind? Die Corona-Leugner entlasten sich emotional, indem sie sichtbare Feinde erfinden.

Dann kehrte langsam der Geschmackssinn wieder, berichtete mein Sohn. Der Geruch weitaus später. Aber nicht nur diese Sinne sind durch das Virus eingeschränkt. Das Verbot des gefahrenverbreitenden Berührungssinns erschwert die Kommunikation. Wir mussten uns das Körperliche abgewöhnen, obwohl es sogar beim Nachdenken und Diskutieren hilft. Wir können Gedanken nicht so gut erfassen, wenn wir uns gegen seitig nicht anfassen dürfen. Im Gespräch auf Mimik und Gestik verzichten zu müssen, ist anstrengend. Aufmerksamkeit, die ansonsten auf außersprachliche, stimmliche Signale gerichtet wird, ist in der digitalen Kommunikation damit beschäftigt, Rauschen und schlechte Tonqualität während des Sprechens auszugleichen. Das gegenseitige Berühren, Betatschen, Streicheln, um damit wichtige Informationen zu sammeln, entfällt.

Wohin auch immer

Als ich zum Beispiel nach langer Zeit eine Freundin auf einem Fest wiedertraf, wusste ich, dass sie eine schwierige Phase durchgemacht hatte. Sie tanzte ausgelassen und sah toll aus. Dann umarmte ich sie zur Begrüßung und merkte, dass ihre Schultern knochig waren, ihre Hände eisig. Das Körperbild vervollständigte sich auf diese Weise, und ich erspürte ihre weiterhin problematische Situation, die sie durch Frohsinn lediglich überspielte. Immerhin konnte sie vor Corona noch tanzen, in der Musik, in der Menge aufgehen, sich zwischendurch mit Umarmungen und freundschaftlichen Gesprächen aufladen.

Auch das fehlt. Die Beiläufigkeit, das Zufällige und was sich daraus ergibt, wenn man zu mehreren herumsteht, plaudert, nach einem Konzert, einem Vortrag etwa, der Smalltalk, der rasch zum Deep Talk werden kann, das Unvorhergesehene, das wie eine Atmosphäre des Möglichen über dem Notwendigen, Geplanten und Bewussten liegt.

Im dritten Lockdown werden Impulse dieser Art immer stärker vermisst. Dagegen gibt es wenig handhabbare Lösungen, Antigentests für zu Hause etwa, um sich im kleinen Kreis treffen zu können. Ausflüge, Wanderungen und schließlich, Träume. Oft schwimme ich nachts im Meer. Ich werfe mich in die Wellen, vorzugsweise die größeren des Atlantiks, weil so mein Körper heftiger durchgeschaukelt wird, und lasse mich tragen. Wohin auch immer. (Sabine Scholl, ALBUM, 13.3.2021)