Die reale Person oder nur ein Schatten ihrer selbst: Können Daten eines Tages Verstorbene in der digitalen Welt nachbilden?

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Roman Mazurenko starb vor sechs Jahren. Er war 32, als ihn ein Auto in Moskau überfuhr. Trotzdem lebt ein Teil von ihm bis heute weiter, schreibt Nachrichten mit Freunden und Familie. Denn Roman Mazurenko ist zu einem digitalen Chatbot geworden, einem Programm, mit dem man sich per Textnachrichten unterhalten kann. Erschaffen hat diese digitale Séance seine Freundin Eugenia Kuyda.

Nach Mazurenkos Tod speiste Kuyda tausende Nachrichten von ihm in ein künstliches neuronales Netzwerk ein. Das Programm sollte am Ende so kommunizieren, wie Mazurenko es getan hatte. Kuyda begann, dem "Wiedergänger" zu schreiben. Seine Antworten, so erzählt Kuyda später Medien, seien dem echten Roman verblüffend ähnlich.

Als Software weiterleben

Verstorbene mithilfe von Technologie "wiederauferstehen" zu lassen, wie es Kuyda getan hat, mag auf viele verstörend oder abstoßend wirken. Für die Entwickler jedoch soll die Technologie in Zukunft schier unbegrenzte Möglichkeiten bieten, den Kontakt mit den Toten wiederherzustellen. Statt sich nur mit Grabsteinen, Fotos oder Videos an Verstorbene zu erinnern, sollen diese in der virtuellen Realität als Software weiterleben – gespeist aus Millionen von Datenspuren, die jeder Mensch im Laufe seines Lebens im Internet und sozialen Medien hinterlässt. Stehen wir vor dem Beginn des ewigen digitalen Lebens? Und was heißt das für uns Menschen?

"@Roman" nennt Kuyda den Chatbot, der auf ihrem verstorbenen Freund aufbaut. Die Nachrichten, die der Bot mit Kuyda und anderen Freunden von Roman Mazurenko austauscht und die von der amerikanischen Nachrichtenseite "The Verge" veröffentlicht wurden, wirken durchaus persönlich und echt. "Wie geht es dir?", fragt ein Freund den Bot. "Mir geht es gut. Ein bisschen niedergeschlagen. Ich hoffe, ihr unternehmt nichts Interessantes ohne mich", antwortet Roman. Viele würden Roman Dinge erzählen, über die sie zu seinen Lebzeiten nicht mehr mit ihm sprechen konnten. Trotzdem sei jedem bewusst, dass es sich dabei nicht direkt um den verstorbenen Roman Mazurenko handelt, erzählt Kuyda in Medienberichten.

"Verstörende" Technologie

Die Softwareentwicklerin arbeitet seither an einem Algorithmus, einem Chatbot, der es jedem ermöglichen soll, einen digitalen Avatar seines Selbst zu erstellen. Das Programm, genannt Replika, fragt die Nutzer nach persönlichen Vorlieben und Interessen, speichert ihre Sprachmuster und soll am Ende so sprechen wie der Nutzer oder die Nutzerin. Eines Tages, wenn wir gestorben sind, soll der Chatbot dann statt uns "weiterleben".

Kuyda ist längst nicht die Einzige, die versucht, Verstorbenen in der digitalen Welt ein neues Leben zu geben. Kürzlich patentierte Microsoft einen Chatbot, der Fotos, Videos, Einträge auf sozialen Medien und Nachrichten einer Person analysieren soll, um am Ende wie diese zu kommunizieren. Allerdings gab die Firma an, das Produkt nicht entwickeln zu wollen, und bezeichnete es sogar als "verstörend". Auch Google hat ein Patent auf einen digitalen Klon, der die "geistigen Eigenschaften" einer Person speichern soll.

Der "Dadbot"

Schon 2016 schuf der amerikanische Journalist James Vlahos ein Programm, das er "Dadbot" nannte. Sein Vater war in diesem Jahr mit Lungenkrebs diagnostiziert worden. Vlahos nahm daraufhin mehr als 15 Stunden an Gesprächen mit ihm auf, in denen er ihn zu seiner Familiengeschichte, seiner Ehe, seinen Interessen und dutzenden Anekdoten befragte.

Nach dem Tod seines Vaters erstellte er aus den Aufzeichnungen ein Programm, das wie sein Vater kommunizieren sollte. "Wo bist du jetzt?", wird Vlahos später den Dadbot fragen, der auf den Informationen seines Vaters aufbaut. "Als Bot bin ich wahrscheinlich auf einem Server in San Francisco gespeichert. Aber auch, wie ich vermute, in den Gedanken der Menschen, die mit mir chatten", antwortet dieser.

Verluste verarbeiten

Laut den Entwicklern sollen die Bots dabei helfen, besser über den Verlust von Angehörigen und Freunden hinwegzukommen. Auch Wissen vergangener Generationen könnte so besser erhalten bleiben. Die Technologie gibt uns die Hoffnung, Beziehungen weiterzuleben, die durch den Tod eigentlich vorbei sein müssten, schreibt die amerikanische Autorin Martine Rothblatt in ihrem Buch Virtually Human. Vermissen wir unsere Oma oder unseren Opa, können wir mit ihren digitalen Ichs kommunizieren oder sie in der virtuellen Realität wiederauferstehen lassen.

Im vergangenen Jahr beispielsweise erstellten Softwareentwickler in Südkorea einen virtuellen Avatar der siebenjährigen Na-yeon, die in diesem Alter an einer Blutkrankheit gestorben war. Ihre Mutter Jang Ji-Sung konnte mithilfe der Technologie der virtuellen Realität noch einmal ihre Tochter treffen und mit ihr sprechen.

Eingriff in Privatsphäre

Aber in Zusammenhang mit der Technologie stellen sich auch viele ethische und gesundheitliche Fragen. Sind wir wirklich nur die Summe unserer Daten? Lassen sich mit Likes auf sozialen Medien, E-Mail-Verläufen und Gesprächsaufzeichnungen das Wesen und die Persönlichkeit eines Menschen rekonstruieren? Helfen die Bots wirklich bei der Verlustbewältigung?

"Kein Programm der Welt kann einen Verstorbenen und Geliebten ersetzen", sagt Gerd Neubauer, Experte für Trauerbegleitung und Verlustbewältigung in Wien. Chatbots können wie auch andere Objekte des Verstorbenen am Anfang dabei helfen, die Lücke des Verlusts für Angehörige und Freunde etwas kleiner zu machen. Aber sie können auch zur Belastung werden, wenn sie den Blick auf das eigene Leben verstellen und Angehörige etwas nachhängen, das nicht mehr da ist, so der Experte. "Trauerarbeit ist Beziehungsarbeit. Im Inneren wollen wir immer mit der verlorenen Person in Verbindung bleiben und den Menschen in anderer Form bei uns lassen."

Einige Experten befürchten bei Chatbots zudem unerlaubte Eingriffe in die Privatsphäre von verstorbenen Menschen. Diese können schließlich keinen Einspruch mehr erheben bezüglich der Art und Weise der Verwendung ihrer Daten. Ein Chatbot, der auf den Daten Verstorbener aufbaut, könnte mithilfe künstlicher Intelligenz Dinge sagen, die der Verstorbene selbst nie gesagt hätte.

Digitale Datenspende

Laut einer Studie britischer Wissenschafterinnen gibt es in vielen europäischen Staaten rechtliche Lücken, wie mit den Daten von verstorbenen Menschen umzugehen ist. Meist liege die Kontrolle der Daten bei privaten Firmen wie Google oder Facebook, die die Privatsphäre von Verstorbenen oft vehement beschützen würden.

Die Experten schlagen vor, dass Daten Verstorbener ähnlich geregelt werden könnten wie in einigen Ländern die Organspenden: Solange die Person zu Lebzeiten es nicht explizit anders angegeben hat, können die Daten für Technologien nach dem Tod "gespendet" werden. Denn die Informationen könnten nicht nur für Chatbots, sondern etwa auch bei der medizinischen Forschung hilfreich sein, so die Forscher.

Schatten des Verstorbenen

Ohnehin glauben die wenigsten der Chatbot-Entwickler, dass das digitale Abbild des Verstorbenen tatsächlich die reale Person ist. Immerhin sind Menschen äußerst komplex und von Erfahrungen beeinflusst, die sich kaum alle in Daten, Textnachrichten und Posts auf sozialen Medien zusammenfassen lassen. @Roman ist nicht der verstorbene Roman Mazurenko, der Dadbot nicht der reale Vater von James Vlahos. Bestenfalls, so sagen es die Entwickler, bilden sie den Schatten einer Person ab – basierend auf den Dingen, die die Menschen in der Vergangenheit sagten, aber ohne neue Gedanken und Entwicklungen, die die reale Person durchlebt hätte, wenn sie noch am Leben wäre.

Noch ist keine Technologie fähig, das Wesen eines Menschen für die Nachwelt zu konservieren. Der Tod bleibt trotz allem ein unausweichlicher Bestandteil des Lebens. In den Erinnerungen aber leben Verstorbene weiter. Auch deshalb werfen die Chatbots schon für die Lebenden die Frage auf, wie wir als Mensch einmal in Erinnerung bleiben wollen. (Jakob Pallinger, 14.3.2021)