Wir befinden uns mitten in einer extrem steilen gesellschaftlichen Lernkurve, weg vom Entweder-oder, hin zum Sowohl-als-auch. Die bequeme Welt der Eindeutigkeit haben wir in Richtung Mehrdeutigkeit längst verlassen. Daran ist kein Virus aus der Sars-Familie schuld. Das ist das Ergebnis einer komplex und interdependent gewordenen globalen Gesellschaft, mit ihren Kaufhäusern, voll mit schier unendlichen Wahlmöglichkeiten in den reichen Gesellschaften – zumindest für einen Gutteil der Menschen. Wie will ich leben? Was ist für mich gut, was ist böse? Und welche Konsequenzen haben alle diese meine Entscheidungen auf andere und deren Leben und das Klima?

Eine mehrdeutige Welt bietet da keine eindeutige Orientierung, sondern stößt einen täglich in schwer oder gar nicht auflösbare Dilemmata. Eindeutigkeit wird da zum Handwerkszeug von Populisten oder zum Machtinstrument von Eliten.

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Unilever wird das Wort "normal" aus seinen Kategorisierungen der Körperpflegeprodukte streichen.
Foto: REUTERS/Piroschka Van De Wouw

Entsprechend heftig werden die Kämpfe um moralische Lufthoheit ausgetragen. Wie stark wir alle hier involviert sind und was alles daran hängt, zeigt die jüngste Verlautbarung des globalen Pflegemittelkonzerns Unilever. Er wird das Wort "normal" aus seinen Kategorisierungen der Körperpflegeprodukte streichen. Ob es sich dabei um einen schlauen Marketinggag oder um eine Einsicht in die neue Vielfalt handelt, ist vorerst unerheblich. Es zeigt vor allem, dass Unilever eine gute Nase für das hat, was ist: In "normal" und "nicht normal" lässt sich die Welt, auch die der Konsumenten, nicht mehr einteilen. Dass eine Posterin auf Twitter kommentierte "meine Haut ist normal, ich fühle mich diskriminiert", macht ersichtlich, dass der Prozess um echte Vielfalt damit nicht abgeschlossen ist und die Positionen längst nicht stabil verteilt sind.

"Mehrheit und Minderheit"

Die erbitterte Auseinandersetzung um die Öffnung der eindeutigen binären Geschlechterkategorien von Frau und Mann ist das auffälligste Symptom dafür. Mehrdeutigkeit ist schwierig und anstrengend und löst früher oder später alte Ordnungen auf – mit allen Konsequenzen. Wer dann diskriminiert sein wird, bleibt offen.

Mit bekannten Gleichungen wie "Mehrheit und Minderheit" zu argumentieren hilft hier nicht weiter. Nichtbinäre Personen wollen mitgestalten. Dieses Recht ist nicht infrage zu stellen. Allerdings bedeutet Betroffenheit in einer liberalen demokratischen Gesellschaft ein Recht auf Diskurs, nicht auf moralische Überlegenheit – und schon gar nicht auf Vorherrschaft. Wir werden uns miteinander fruchtvoll erstreiten müssen, wie wir leben wollen und können. Das sich nichts ändern muss, ist ausgeschlossen. Das Was und Wie obliegt weder formellen noch selbsternannten Eliten.

Da geht es um das Innere unserer Gesellschaft, um Zusammenhalt und Wachstum. Unser Wohlstand ist eine der Folgen davon, wie respektvoll und wie ernsthaft wir Mehrdeutigkeit anerkennen. Unilever hat das in der Umsatzplanung zunächst offenbar schon erkannt – und mit seiner plakativen Aktion die Finger auf Wunden gelegt. (Karin Bauer, 14.3.2021)