„Es war wie der Wasserstrahl aus einem Schlauch, den jemand voll aufgedreht hatte.“ So beschreibt Jordana Kritzer (40), Emergency-Room-Medizinerin im Montefiore Medical Center im New Yorker Stadtteil Bronx, die Patientenflut im März und April des vergangenen Jahres. Damals kam das öffentliche Leben der Acht-Millionen-Metropole zum abrupten Stillstand. Kurz darauf schlitterte sie mit atemberaubender Geschwindigkeit in die Corona-Apokalypse. 

Am 12. März 2020 schlossen Broadway-Theater und andere Kultureinrichtungen ihre Türen – bis heute. Die öffentlichen Schulen, mit 1,1 Millionen Schülern das größte Schulsystem der USA, sperrten wenige Tage später zu. Doch der Shutdown war zu spät gekommen. Emergency Rooms und Intensivstationen füllten sich mit Patienten, die nicht mehr atmen konnten. Kühlwagen warteten vor den Krankenhäusern auf die Leichenberge, im Central Park wurde ein Feldspital errichtet und ein Lazarettschiff lag im Hafen. Das unerbittliche Hallen der Sirenen erinnerte die New Yorker Bevölkerung Tag und Nacht an die Katastrophe. Die Stadt war zum Epizentrum der Pandemie geworden. 
 

Brennpunkt Bronx

Kritzers Patienten sind zum Großteil Schwarze oder Latinos, einige stammen aus Einwandererfamilien aus der Karibik, aus Jamaica, der Dominikanischen Republik und Haiti. Sie gehören zur demografischen Gruppe, die vom Virus am heftigsten heimgesucht wurde. Zumeist arbeiten sie in systemrelevanten Berufen, sind „essential workers“. Sie leben in ärmlichen Verhältnissen auf engstem Raum zusammen, oft verschiedene Generationen unter einem Dach, und arbeiten im Verkauf oder Dienstleistungsberufen. „Im Montefiore hören wir jede Sprache im ER“, erzählt Kritzer. „Hierher kommen Menschen, die sehr seltene Dialekte aus der ganzen Welt sprechen. Unser Übersetzungsdienst kann 240 Sprachen übersetzen.“

Am Beginn der Pandemie gab es keine wissenschaftlichen Erfahrungswerte oder Richtlinien dafür, wie man Covid-Patienten behandeln sollte, was eine riesige Herausforderung für die Ärzte darstellte, erinnert sich Kritzer. Außerdem veränderten sich die Behandlungsprotokolle laufend, oft von einem Tag auf den nächsten. Der Patientenansturm war überwältigend. „Wir versuchten zu entscheiden, wer Corona hatte, um sie in einem Bereich zu isolieren. Aber dann stellten wir fest, dass jeder Corona hatte. Die Leute kamen mit einem gebrochenen Fuß herein und sie hatten es auch.“

Mai 2020. Fotosticker wurden verwendet, damit Ärzte von Patienten erkannt werden können.
Foto: Jordana Kritzer

Verzweifelter Kampf gegen die Krankheit

Die gängigen Behandlungsmethoden bei Atembeschwerden durften nicht verwendet werden, da diese den Virus über den gesamten Raum verteilt hätten. Beatmungsgeräte waren knapp, Patienten mussten die Geräte teilen: „Wir fühlten uns wie Astronauten im All. Wenn ich diesen Teil damit verbinde, funktioniert das? Wir haben unser Bestes gegeben. Wir liefen manchmal durch das ganze Spital, um aus unbenutzten Operationsräumen oder Neugeborenen-Intensivstationen Beatmungsgeräte herzuschleppen.“ Krankenschwestern gingen von einem Patienten zum nächsten, um die Sauerstoffmasken, die sich Patienten im Delirium herunterzogen, wieder aufzusetzen.

Familienangehörige durften Patienten nicht besuchen. „Ich habe mit den Familien telefoniert. Das war ein riesiger Quell der Verzweiflung und Traurigkeit, dass sie nicht mit ihren Lieben sein konnten. Sie baten mich, Nachrichten zu überbringen: Können Sie meiner Mutter sagen, dass ich sie liebe? Können Sie meinem Bruder sagen, dass er mein bester Freund ist? Können Sie ihre Hand halten und sagen, dass ich wünschte, ich könnte dort sein? Diese Gespräche werde ich nie vergessen. Das war sehr hart.“ Sie selbst funktionierte einfach: „Wenn du im Tornado bist, tust du, was du tun musst, du denkst nicht nach. Und etwas tun zu können, schützt vor posttraumatischen Belastungsstörungen“.

Durch „New York State on Pause“, dem völligen Shutdown, wurde das Wasser des Patientenzustroms schließlich abgedreht. Alles war geschlossen. Viele verließen die Stadt und dann war es plötzlich ruhig im ER. „Es gab diesen unglaublichen Patientenansturm, und dann die Stille.“ Mittlerweile ist New York wieder aus der Schockstarre erwacht und befindet sich in einer neuen Normalität, meint Kritzer. „Jetzt haben wir so viel, was wir vorher nicht hatten. Wir haben Behandlungsmethoden. Wir haben Medikamente. Wir haben Isolationseinheiten. Wir haben verfügbare Tests. Wir testen alle. Es gibt genug Schutzkleidung.“ Das Risiko für medizinisches Personal ist stark gesunken, und damit auch deren Panik.

New York war im April das Epizentrum von Corona.
Foto: AP Photo/Robert F. Bukaty

 „Wo sind die Kinder?“

Die Schließung der Schulen sei für Kinder und Familien allerdings verheerend. „Die ganze Familieneinheit wird durch Schulschließungen durcheinandergebracht. Die meisten Menschen haben keine Arbeit, die sie vom Computer zu Hause aus erledigen können. Viele Patienten sprechen darüber. Wir müssen arbeiten. Wir müssen die Kinder ernähren. Wir müssen die Miete bezahlen.“ Eltern in den Stadtteilen, die besonders stark vom Virus betroffen waren, hätten außerdem zu große Angst, ihre Kinder in die Schulen zu schicken. Die öffentlichen Grundschulen in New York bieten eine Mischung aus Präsenzunterricht und Remote Learning an. Middle Schools und High Schools waren bisher weitgehend geschlossen.

Das Risiko von Covid-19 krank zu werden, sei bei weitem geringer, als ein ganzes Jahr ohne soziale Interaktion und persönlichen Unterricht auszukommen, meint Kritzer. „Kinder entwickeln so Angstzustände und Depressionen. Sie haben aufgehört, in den ER zu kommen. Normalerweise waren 30 Prozent unserer Patienten Kinder. Sie kommen wegen Husten, Erkältung oder Frakturen. Aber Kinder spielen nicht draußen, sie werden nicht krank wie sonst. Sie sind nicht in der Schule.“ Die negativen Auswirkungen aufs Immunsystem durch diese Isolation seien signifikant. „Seit einem Jahr hören Kinder nur, dass alles gefährlich sei. Wir müssen ihnen helfen, wieder in die Normalität zu finden, indem wir sagen 'Geh, es ist sicher, berühr das, spiele mit den anderen, es ist sicher.'"

Kritzer sagt, sie höre oft, wie ihre Freunde anderen die Schuld geben, wenn sie an Covid-19 erkranken. "Es ist ein Virus. Es ist niemandes Schuld. Niemand will Covid bekommen. Jeder muss tägliche Entscheidungen treffen, die ein unterschiedliches Infektionsrisiko aufweisen. Wir haben unser Gefühl dafür verloren, was es bedeutet, sicher zu sein. Und wir haben uns so darauf konzentriert, uns vor Corona zu schützen, dass wir alles andere aus den Augen verloren haben. Covid-19 ist ein Virus, das eine leichte Krankheit für die einen und eine schwere und tödliche Krankheit für die anderen sein kann. Die meisten Menschen haben nicht das Privileg, bis zum Ende der Pandemie weggesperrt zu bleiben. Ich wünschte nur, wir könnten aus den Schuldgefühlen und den Schuldzuweisungen herauskommen. Es schadet unserer Gesellschaft."

Das Montefiore Hospital in New York.
Foto: AP Photo/John Minchillo

The Roaring Twenties

Kritzer ist davon überzeugt, dass New York wieder aufleben wird: „Ein Gedanke hat mich in diesen Monaten sehr getröstet hat. Nach dem Ersten Weltkrieg und der Spanischen Grippe sind die Roaring Twenties gekommen. Wir sind jetzt im Jahr 1918, wir sind noch nicht im Jahr 1922, mit all den Flappers, Varieté-Theatern, Partys und lebenshungrigen Menschen. Wir werden unsere Roaring Twenties erleben. Die Menschen werden sich auf alles stürzen, was sie im letzten Jahr nicht tun konnten.“

New Yorker seien hungrig nach Karriere, Unterhaltung, sozialem Leben oder Sport. „Jeder kam hierher, um einen Traum zu verwirklichen. Das macht New York besonders und ich glaube nicht, dass das jemals verschwinden wird. Es wird wiederkommen.“

Lichtprojektion am Montefiore Medical Center anlässlich des Jahrestages der Pandemie.
Foto: TKTK/Getty Images for Montefiore

“Widerstandsfähigkeit und Gedenken sind unser Weg in die Zukunft”

Am 11. März gedachte das Montefiore Medical Center in einer Zeremonie dem Jahrestag des laut WHO offiziellen Beginns der Pandemie. Auch der erste Covid-19-Fall des Spitals wurde an diesem Tag diagnostiziert. Philip Ozuah, Direktor und CEO des Krankenhauses, sagte in seiner Ansprache zu seinen Mitarbeitern: „You went to war“ und „resilience and remembrance are our path to the future.” Er sprach über die einzigartigen Qualen von Covid-19 und forderte gerechteren Zugang zu Gesundheitsversorgung und dieselben Rechte für alle Bürger.

In einer Schweigeminute wurde an die 28 Angestellten des Montefiore Spitals erinnert, die durch Covid-19 ihr Leben verloren hatten. Ein Baum vom 9/11-Denkmal wurde vor dem Montefiore Spital gepflanzt. „Thank you for Healing New York“, „United we Remember“ und „United we Rise“ war mit einer Lichterprojektion auf der Krankenhausfassade zu lesen.  

Am gleichen Tag erreichte die USA einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg aus der Krise. Das Center for Disease Control and Prevention gab bekannt, dass 100 Millionen Impfungen gegen Covid-19 verabreicht worden waren. 35 Millionen Amerikaner waren vollständig immunisiert worden. (Stella Schuhmacher, 19.3.2021)

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