Die Schweizer "Klimaseniorinnen" fuhren mit dem Schiff von Basel nach Straßburg zum Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

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Runter vom Gas: Seit 16. März 2020 gilt auf niederländischen Autobahnen ein Tempolimit von 100 km/h. Die neue Regelung führte die Regierung aber nicht ganz freiwillig ein. Ausgebremst wurde sie durch einen jahrelangen Rechtsstreit, der nur wenige Monate zuvor ein überraschendes Ende genommen hatte. Die Umweltschutzorganisation Urgenda gewann in letzter Instanz ihre Klimaklage gegen die Niederlande. Das Urteil verpflichtete den Staat zu weitreichenden Maßnahmen, um seine CO2-Emissionen zu reduzieren.

Das erfolgreiche Beispiel der Urgenda-Stiftung löste als Präzedenzfall einen regelrechten "Boom" an Klimaklagen aus, erzählt Daniel Ennöckl, Professor für Umweltrecht an der Universität Wien: "Umweltorganisationen stellten sich die Frage: Kann man Vergleichbares auch in anderen Staaten erreichen? Die Antwort ist nicht einfach, denn der Rechtsschutz in Umweltfragen ist in unterschiedlichen Ländern völlig unterschiedlich ausgestaltet." Im Jahr 2021 werden sich nun zum ersten Mal die europäischen Höchstgerichte in gleich mehreren Fällen mit dem Thema beschäftigen. Auch die österreichische Klimaklage ist mit von der Partie. Sie zieht Anfang April vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) nach Straßburg – dorthin, wo die "portugiesischen Kinder" schon sind.

Katastrophen als Brandbeschleuniger

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Nach den verheerenden Waldbränden in Portugal im Jahr 2017, bei denen 110 Menschen ums Leben kamen, reichten sechs Kinder und Jugendliche im Alter von acht bis 21 Jahren eine Beschwerde beim EGMR ein. Unterstützt wurden sie dabei vom Global Legal Action Network (GLAN). Laut Klägerinnen und Klägern sei der Klimawandel für die portugiesischen Waldbrände verantwortlich gewesen. Um ähnliche Katastrophen in Zukunft zu verhindern, mahnen sie gegenüber 33 Ländern die Erfüllung ihrer Klimaziele ein. Die EU-Staaten sowie Norwegen, Russland, Großbritannien, die Türkei, die Schweiz und die Ukraine würden durch ihr zögerliches Handeln die Klimakrise weiter verschärfen und gefährdeten damit die Zukunft ihrer Generation, argumentieren die Kinder.

Vergangenen Herbst feierte die Klage einen ersten Erfolg: Der Menschenrechtsgerichtshof entschied, mit dem Verfahren fortzufahren und die betroffenen Staaten zu Stellungnahmen aufzufordern. Grundsätzlich kann der EGMR erst dann angerufen werden, wenn Kläger bereits den nationalen Instanzenzug durchlaufen haben. Im portugiesischen Fall argumentierte man allerdings, dass es für die Jugendlichen nicht zumutbar sei, in allen betroffenen Ländern bis zu den Höchstgerichten zu kämpfen. Man werde dem Verfahren aufgrund seiner Wichtigkeit und Dringlichkeit Priorität einräumen, hieß es seitens des Gerichtshofs.

Von jung bis alt

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Während in Portugal Kinder für den Klimaschutz vor Gericht zogen, schlossen sich in der Schweiz knapp 2.000 Frauen im Pensionsalter als "Klimaseniorinnen" zusammen, um sich für den "Schutz von Grundrechten" und den "Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen" einzusetzen. Denn "ältere Menschen, Kleinkinder und chronisch Kranke" seien besonders stark von übermäßiger Hitze betroffen. Nachdem sie im Mai 2020 mit ihrer Klimaklage vor dem Schweizer Bundesgericht gescheitert waren, zogen auch die "Klimaseniorinnen" Ende letzten Jahres vor den EGMR.

Die Argumentation der Pensionistinnen stützt sich ebenfalls auf die Nichterfüllung der Klimaziele: Das im nationalen CO2-Gesetz geregelte Reduktionsziel sei ungenügend für die Begrenzung der Klimaerwärmung auf maximal 2 Grad Celsius. Da ein Anstieg der Temperaturen darüber hinaus mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit zu einer "gefährlichen Störung des Klimasystems" führe, verletze die Schweiz ihre Verfassung und die Europäische Menschenrechtskonvention. Der Staat erfülle seine Schutzpflichten im Hinblick auf das Recht auf Leben und die körperliche Unversehrtheit nur ungenügend. Denn aufgrund häufiger werdender Hitzewellen erkranken Menschen oder sterben frühzeitig, so die Argumentation.

EuGH urteilt schon dieses Jahr

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Der "Peoples's Climate Case" richtete seine Klimaklage direkt an die Europäische Union. Im Mai 2018 klagten zehn vom Klimawandel betroffene Familien aus Europa, Kenia und Fidschi beim Europäischen Gericht (EuG) den Schutz ihrer Grundrechte ein. Das Ziel: die Verpflichtung des europäischen Gesetzgebers zu einer angemessenen Klimazielverschärfung bis 2030. Im Mai 2019 wies das Europäische Gericht die Nichtigkeits- und Amtshaftungsklage in erster Instanz aus formalen Gründen zurück. Die Antragstellerinnen seien aufgrund mangelnder "individueller Betroffenheit" nicht dazu befugt, die Klimapolitik der EU anzufechten.

So wie bei der österreichischen Klimaklage erfolgte daher bisher keine inhaltliche Prüfung des Anliegens. Der "People's Climate Case" legte ein Rechtsmittel gegen die Entscheidung beim Europäischen Gerichtshof ein und hofft auf eine Abkehr von der bisherigen europäischen Rechtsprechung. Die strengen formalen Vorgaben der "individuellen Betroffenheit" seien mit dem Anliegen des effektiven Grundrechtsschutzes nicht zu vereinbaren. Das Urteil des EU-Höchstgerichts wird bereits dieses Jahr erwartet – und könnte einen neuen Präzedenzfall schaffen. (Jakob Pflügl, 17.3.2021)