Seit Monaten kommt es immer wieder zu Protesten in Belarus.

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Als sich Langzeitmachthaber Alexander Lukaschenko nach der Präsidentschaftswahl im vergangenen August erneut zum Sieger ausrufen ließ, erwachte in Belarus (Weißrussland) eine bis dahin beispiellose Demokratiebewegung. Mittlerweile sind die Proteste leiser geworden, doch sie finden immer noch statt. Lukaschenkos Gegenkandidatin Swetlana Tichanowskaja lebt im Exil in Litauen und hat dort ein Team von Mitarbeitern, das sich für freie Wahlen in der Heimat einsetzt. Einer davon ist Valery Kavaleuski, Tichanowskajas Beauftragter für Außenpolitik. Am Dienstag war er zu Gast in Wien.

STANDARD: Um die Proteste in Belarus ist es zuletzt ruhiger geworden. Wie schätzen Sie die aktuelle Lage ein?

Kavaleuski: Das Regime verwendet viel Kraft darauf, die Proteste unsichtbar zu machen. Die Demonstrationen wurden zuerst in die Vorstädte gedrängt, nun dringt die Polizei sogar in Wohnungen ein, wenn sie Protestsymbole im Fenster sieht. Dass die Behörden so nervös sind, zeigt aber auch, dass sie die Lage noch nicht unter Kontrolle haben.

STANDARD: Was bedeutet das für Ihre Strategie?

Kavaleuski: Die Polizei geht gewaltsam gegen Kundgebungen vor. Wir rufen also nicht zu Demonstrationen auf, aber wir zeigen, dass wir die Menschen unterstützen. Proteste finden ja nicht nur auf großen Demos statt. Die Leute diskutieren, informieren Freunde und Verwandte, dekorieren Hinterhöfe mit Protestsymbolen oder ziehen in kleinen Gruppen durch ihre Viertel. Viele machen das nur in sehr kleinem Rahmen, aber sie alle sind wichtig.

STANDARD: Wie ist die Stimmung unter den Sicherheitskräften selbst?

Kavaleuski: Wir sprechen auch mit Polizeiangehörigen über ihre Ängste. Sie sind rechtlich sehr schlecht abgesichert, dürfen keine Gewerkschaften gründen. Gleichzeitig werden sie von Lukaschenko massiv missbraucht, schützen ausschließlich seine Interessen, nicht Recht und Ordnung im Land. Nur eine relativ kleine Zahl von Polizisten war an Gewalt, Folter und Mord beteiligt, aber der schlechte Ruf fällt auf alle zurück, die eine Uniform tragen. Darunter leiden viele sehr stark.

STANDARD: Wie beurteilen Sie die Haltung der Europäischen Union?

Kavaleuski: Wir wissen die zügige Reaktion der EU zu schätzen. Ihre Haltung ist ja, dass Lukaschenko kein legitimer Präsident ist. Bei den Sanktionen hat die EU die Temperatur schrittweise erhöht, um dem Regime Gelegenheit zur Reaktion zu geben, aber die Signale wurden nicht gehört. Die Antwort der EU sollte also robuster und zielgenauer werden – etwa mit Blick auf Leute, die Lukaschenko finanzieren, oder auf Richter, Staatsanwälte und Propagandisten, die zusammen den Repressionsapparat bilden.

STANDARD: Vor der Wahl wurde versucht, Lukaschenko Türen zum Westen zu öffnen. Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz etwa war 2019 in Minsk, Lukaschenko danach in Wien. War das ein Fehler?

Kavaleuski: Es gab gute Versuche – nicht nur Österreichs, sondern auch der EU und der USA. Leider hat das Regime die Schritte des Westens immer gerne gesehen, selbst aber keinerlei Schritte unternommen, um Demokratie und Menschenrechte in Belarus zu stärken. Ich glaube, die EU und die USA hätten einen guten Hebel gehabt, um auf Änderungen zu drängen, haben es aber nicht getan. Das war eine verpasste Gelegenheit.

STANDARD: Manche sehen die Lage in Belarus auch vor dem Hintergrund der Spannungen zwischen der EU und Russland. Wie beurteilen Sie das?

Kavaleuski: Die Proteste waren nie geopolitisch motiviert. Es geht uns ausschließlich um Demokratie im eigenen Land. Manchmal hört man von westlichen Journalisten, es sei heuchlerisch, Hilfe von der EU in Anspruch zu nehmen, ohne ihr beitreten zu wollen. Aber das ist eben nicht unsere Intention – und auch nicht unser Mandat. Wir wollen das Land nirgendwo hindrängen.

STANDARD: Sie waren als Diplomat unter anderem an der Botschaft in Washington. Was hat Sie motiviert, nun Swetlana Tichanowskaja zu unterstützen?

Kavaleuski: Als ich eingeladen wurde, mich ihrem Team anzuschließen, habe ich keine Sekunde gezögert. Es war inspirierend zu sehen, welche Last sie auf sich genommen hat. Die Energie, die Kreativität und die Größe der Protestbewegung, die Solidarität der Menschen untereinander – all das hat uns gezeigt, dass unser Land ganz anders ist, als wir gedacht hatten. (Gerald Schubert, 17.3.2021)