Zu viele Autos am Straßenrand, zu wenig Platz auf der Rodelwiese – mit diesem uncharmanten Steckbrief ließ der Semmering Anfang dieses Jahres wieder einmal von sich hören. Es mag nicht gerade empathisch wirken, wenn eine altehrwürdige Tourismusregion nur deshalb in der Gegenwart Erwähnung findet, weil es für Reisende in der Pandemie kaum Alternativen gibt.

Doch man kann die Sachlage auch völlig anders beurteilen: Was, wenn die unzähligen jungen Familien aus Wien, die heuer zum ersten Mal den schönen Semmering sahen, nachhaltig Gefallen an dieser Gegend finden? Die Voraussetzungen dafür sind angeblich nie besser gewesen.

Der berühmte 20-Schilling-Blick am Semmering, wie er auch auf dem alten Geldschein zu sehen war.
Foto: iStock / Peter Takacs

Nach Corona, ist nun häufiger zu lesen, wollen tatsächlich einige Menschen klimabewusster reisen und die Sommerfrische daheim auferstehen lassen. Um zu ergründen, wie gut die Chancen am Semmering diesmal für ein Erwachen aus dem jahrzehntelangen Dornröschenschlaf stehen, fragten wir zu allererst bei einem kritischen Anrainer nach.

Auch am Semmering

Der Autor und Künstler Richard Weihs lebt seit Jahren immer wieder auch am Semmering. Die Familie wurde dort wie viele andere jüdische Familien von den Nationalsozialisten enteignet. Nach dem Krieg kaufte der Vater das Grundstück zurück.

Weihs empfindet es als Bereicherung, dass in diesem Winter mehr junge Menschen auf den Semmering gekommen sind: "So etwas habe ich hier seit 50 Jahren nicht erlebt. Und wenn junge Leute das Gefühl haben, etwas selbst entdeckt zu haben, kommen sie vermutlich wieder", sagt er über die Nachhaltigkeit dieser Besuche.

Klare Pläne

Dennoch habe er Sorge, dass man sich am Semmering in der jüngeren Vergangenheit "auf Gedeih und Verderb" jenem ukrainischen Konsortium ausgeliefert habe, das dort bis heute wesentliche Teile der Infrastruktur besitze. Als der aktuell 64-jährige Weihs noch als Werbetexter für Niederösterreich-Tourismus tätig war, sei ihm bereits aufgefallen, wie sehr sich ein ehemaliger Direktor des Hotels Panhans klare Pläne für die Zukunft des Semmerings gewünscht habe.

Doch das ukrainische Konsortium, dem auch das Panhans gehört, habe wöchentlich seine Strategien geändert und immer neue, oft unerfüllbare Vorgaben gemacht. Und wie sieht es dort oben sonst so aus mit der Kontinuität?

Aus dem Kurhaus am Semmering und dem Südbahnhotel bekamen früher viele Menschen Post, wie die große Anzahl alter Ansichtskarten nahelegt.
Foto: ÖNB / Ansichtskarten Online

Anfang März haben wir bei einer Wanderung am Semmering Nachschau gehalten: Kommen noch immer so viele Menschen wie zu Zeiten der gesperrten Rodelwiesen rund um Weihnachten? Tatsächlich scheint der Höhepunkt des Ansturms auf diesem höchsten Punkt zwischen Niederösterreich und der Steiermark vorerst wieder überschritten.

Abgesehen von den Skifahrern am Zauberberg, die wohl weiterhin noch so zahlreich und verlässlich anreisen, solange es der Klimawandel zulässt, sind die letzten Rodler schon weg und erste wenige Wanderer wieder da. Gerade auf Letztere muss der Semmering wie einer der österreichischsten Orte überhaupt wirken. Hier oben hat nämlich jeder Ausblick auch etwas von einem Rückblick. Ganz besonders wird einem das auf dem Wolfsbergkogel bewusst, den man besser als den 20-Schilling-Blick kennt.

Blick auf altes Geld

Gut eine Stunde lang marschiert man von der Passhöhe bis zu diesem Panoramaplatz, um dort gleich doppelt in der Geschichte zurückzugehen. Von hier schaut man auf das beeindruckende Bahnviadukt über die Kalte Rinne und damit direkt ins Jahr 1854. Damals wurde Carl von Ghegas viel gefeierte Bahn über den Semmering als Teil der Südbahnstrecke eröffnet.

Man sieht von diesem Ort aber auch sprichwörtliches altes Geld. Oder besser gesagt: alte Banknoten. Das Viadukt und die Pollereswand sind das Motiv der Rückseite eines früheren 20-Schilling-Scheins. Der kleine braune Zwanziger ist allerdings auch schon seit mehr als dreißig Jahren nicht mehr im Umlauf.

Dieser Ort scheint also perfekt, um sich die Frage zu stellen: Wann hört das einmal auf, dass man am Semmering immer zurück in die Vergangenheit blickt? Eine mögliche Antwort darauf findet man nur wenige Höhenmeter unter dem Wolfsbergkogel.

Vielversprechende Aufschrift

Südlich des 20-Schilling-Blicks erspäht man das 1909 fertiggestellte, aber schon lange leerstehende Kurhaus – und damit womöglich auch eine Zukunft der Sommerfrische am Semmering. Zunächst deutet an diesem heruntergekommenen Bauwerk außer einem nagelneuen Postkasten nichts darauf hin, dass nach Anna Mahler, Sigmund Freud und Stefan Zweig hier jemals wieder auch nur unprominentere Gäste absteigen könnten.

Immerhin seit 35 Jahren kommt jetzt keine Kundschaft mehr. Dann stellt man aber scharf und liest auf der neuen Postbox am Eingang die vielversprechende Aufschrift "Grand Semmering".

Kurhaus Semmering
Foto: ÖNB / Ansichtskarten Online

Dieser vielversprechende Name taucht in letzter Zeit öfter auf, vor allem in den Wirtschaftsteilen deutschsprachiger Publikationen. Der Grazer Hotelier Florian Weitzer hat das alte Kurhaus im Dezember 2019 erworben, um es in ein paar Jahren – bestenfalls 2024 – als Grand Semmering wiederzueröffnen.

Das ist durchaus erstaunlich in einer krisenbehafteten Zeit wieder dieser. Zumal Weitzer neben den Stammhäusern in Graz und den beiden Hotels Daniel auch das Wiener Grand Ferdinand betreibt. Warum er sich jetzt auch noch das Kurhaus am Semmering antut, fragt man allerdings besser seinen Berater Milo Tesselaar – denn er war es, der Weitzer erst in Versuchung brachte.

Tesselaar geht seit Jahren immer wieder am Semmering wandern. 2016 ist er zum ersten Mal am Kurhaus vorbeispaziert und hat Florian Weitzer gefragt, ob das nichts für ihn sei. Er muss wohl ziemlich überzeugend geklungen haben, denn gleichzeitig wissen Weitzer und Tesselaar: Die Stimmung im Ort ist seit Jahren schlecht. Für manche auch deshalb, weil vieles in Hand ukrainischer Investoren ist, die hier nicht jedes Haus und jede Anlage mit voller Kraft betreiben.

Kauf aus Dankbarkeit

Für den Zustand des Kurhauses kann das ukrainische Konsortium jedenfalls nichts. Es befand sich bis zuletzt in kasachischer Hand. Wobei es zu dem kasachischen Besitzer, dem Weitzer das Haus abkaufte, wenigstens eine schöne Geschichte gibt: Der Mann war Soldat und soll nach dem Zweiten Weltkrieg als Schwerverletzter ins Kurhaus eingewiesen worden sein, das zu dieser Zeit ein Lazarett gewesen ist. Aus lauter Dankbarkeit kaufte der später zu Reichtum gekommene Mann das verfallene Haus. Etwas Neues daraus zu machen hat aber offensichtlich auch er nie vermocht.

Unesco-Welterbe Semmeringbahn: Mit der Eröffnung des Semmering-Basistunnels wird auch der klimabewusste Bahnreisende aus Wien, Graz oder Budapest die Region wiederentdecken wollen.
Foto: Getty Images/iStockphoto/dinkaspell

Man muss also wissen, was man an diesem Ort tut, um die richtigen Leute anzuziehen. Weitzer scheint für das alte Kurhaus, sprich das werdende Grand Semmering, jedenfalls einen Plan zu haben. Ganz offensichtlich schwebt ihm kein übergestülptes, austauschbares Konzept vor, sondern die Bezugnahme auf das Besondere, das schon da ist.

Denn mit der Eröffnung des Semmering-Basistunnels wird auch der klimabewusste Bahnreisende aus Wien, Graz oder Budapest die Region wiederentdecken wollen. Auch deshalb wirkt es wie selbstverständlich, dass man den kleinen Bahnhof Wolfsbergkogel direkt vor der Haustüre des Hotels künftig wieder für Fernverbindungen reaktivieren will.

Unesco-Welterbe

Tatsächlich spricht man über das Unesco-Welterbe Semmeringbahn nun öfter in Hinblick auf die Zukunft. Sollte nämlich trotz aktueller technischer Herausforderungen der Basistunnel 2028 in Betrieb gehen, wird das in der Region einiges an der Nutzung der historischen Strecke ändern.

Manche Beobachter erwarten gar Schweizer Verhältnisse: Vollverglaste Panoramawagen, für die teure Tickets gelöst werden müssen, könnten dann Zugbegeisterte aus aller Welt gemächlich durch die schöne Landschaft chauffieren. "Ich rechne damit, dass es hier heroben bis 2025 wieder ein Ganzjahreshotel gibt, das eine solche gehobene Klientel bedienen kann", stimmt auch der Semmering-Kenner Edgar Bauer in die allgemeine Aufbruchsstimmung ein.

Kein Luxusghetto

Ob es sich dabei um Weitzers Grand Semmering, das legendäre Südbahnhotel oder das Panhans handeln könnte, lässt Edgar Bauer bewusst offen. Er waltet und schaltet im Südbahnhotel im Auftrag des deutschen Eigentümers, und auch für dieses historisch erste Hotel am Semmering gäbe es genügend Szenarien mit blühender Zukunft: am ehesten sieht er es als Palasthotel für eine kunst- und kulturaffine Klientel. Ein Luxusghetto soll aus dem Betrieb und aus dem Ort aber in keinem Fall werden.

Hotel Panhans
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Der tourismuserfahrene Berater ist vor Ort sehr engagiert – etwa durch die Initiative "Gemeinde21", die in Niederösterreich die Dorferneuerung im besten Sinn vorantreiben will. Es müsse am Semmering auch in Zukunft immer ein Nebeneinander einer gehobenen Klientel, von Freizeitsportlern und Familien geben, wie er meint. Letztere würden in Hinkunft wieder zeitgemäße und leistbare Unterkünfte benötigen.

Modellregion werden

Auch Bauer erachtet die Eröffnung des Semmering-Basistunnels als sehr wichtig für die touristische Zukunft der Gemeinden am Pass. Im Wesentlichen sei aber alles schon da, um der Region wieder zu ihrem früheren Glanz zu verhelfen: die schöne Landschaft, die gute Luft, sogar eine Tourismusschule. Die ukrainischen Investoren sieht er im Gegensatz zu seinen Vorrednern übrigens nicht als Problemfall, schließlich habe man ja eigene Pläne und Ideen.

"Vielleicht darf ich mir an dieser Stelle noch ein kleines Brainstorming erlauben", führt Bauer seine Überlegungen weiter aus: "Ich sehe die Welterberegion Semmering und sein Mobilitätskonzept in Richtung Zermatt gehen. Denn warum sollte daraus nicht eine Modellregion werden, in die man künftig nur mehr mit der Bahn reist? Der Semmering könnte völlig ohne Autos auskommen. Ganz so wie früher." (Sascha Aumüller, RONDO Exklusiv, 29.3.2021)