Autor Richard Schuberth erinnert in seinem Gastbeitrag an die Pariser Kommune und schreibt über ihre Bedeutung für heute.

Wird Emmanuel Macron die Chuzpe aufbringen, auf dem Friedhof Père-Lachaise, wo die Regierungstruppen am Pfingstsonntag des Jahres 1871 die letzten 147 der insgesamt rund 25.000 getöteten Kommunarden und Kommunardinnen ohne Prozess exekutierten, einen Kranz niederzulegen? Vermutlich überlässt er es der sozialdemokratischen Bürgermeisterin von Paris, Anne Hidalgo, ein Bäumchen am Montmartre zu pflanzen.

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Eine Barrikade der Pariser Kommune in den Straßen der französischen Hauptstadt im Jahr 1871.
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Kein Ereignis der französischen Geschichte spreizt sich so sehr gegen die nationale Vereinnahmung wie die Pariser Kommune. Noch immer trägt es Stacheln, die von der Gedenkkultur zwar gestutzt wurden, aber immer wieder nachwuchsen. Schon die Dritte Republik (1870–1940) versuchte – mit dem üblichen Pathos der nationalen Versöhnung – sich als schöpferische Frucht eines unglückseligen Bürgerkriegs darzustellen, als wollte sie verkünden: Wir haben sie nicht umsonst erschossen und einige ihrer für damalige Verhältnisse zu voreiligen Anregungen beherzigt: Trennung von Kirche und Staat, zumindest rechtliche Gleichstellung der Geschlechter und ... – nun ja mit dem kostenlosen Bildungssystem für alle hat es dann doch nicht so richtig geklappt.

Linke Kommentatoren werden die heroischen Proletarier der Kommune erwartungsgemäß mit den "Gilets jaunes" vergleichen, andere werden mit dem Hinweis widersprechen, der Kern der Gelbwesten rekrutiere sich aus dem unteren Mittelstand, wieder andere werden dagegenhalten, dass es sich mit den Kommunarden nicht anders verhielt und deren proletarischer Charakter eine marxistische Projektion sei. Und sie werden teilweise recht haben damit, denn den treibenden Motor der Kommune bildeten wirklich Kleinbürger, Handwerker, aber im Gegensatz zu den "Gilets jaunes" waren das hochgebildete "petits bourgeois" mit konkreten gesellschaftspolitischen Visionen, die dem Proletariat die Schwesterhand reichten, und dieses stellte nachweislich dann doch das Gros der Verteidiger der Kommune.

Radikale Demokratisierung

In den zwei Monaten ihres Bestehens erließ die Kommune Mietschulden, führte unentgeltliche Schulbildung ein, beschloss die totale Gleichstellung der Geschlechter (inklusive gleicher Löhne), glich die Gehälter von Beamten und Arbeitern an, wandelte Fabriken in Arbeitergenossenschaften um, verbot Lohnkürzungen und Nachtarbeit, schaffte das stehende Heer ab, konfiszierte Kirchengüter und nahm überhaupt die radikale Demokratisierung aller gesellschaftlichen Bereiche in Angriff. Ausländern wurden in Paris sofort die Bürgerrechte zuerkannt. Ein zentraler Grund aber, warum jede nationale Vereinnahmung an der Kommune abgleitet: Ihre Protagonisten einigte trotz aller weltanschaulichen Differenzen die leidenschaftliche Ablehnung der Nation als institutionalisierter Lüge der besitzenden Klassen zur Harmonisierung sozialer Gegensätze. Paris machte sich von Frankreich unabhängig. "Unser Schlachtruf", frohlockte der Geograf Élisée Reclus, "lautet nicht länger ,Lang lebe die Republik‘. Er lautet: ,Lang lebe die Weltrepublik‘."

Bis auf Geiselerschießungen in den letzten Tagen des staatlichen Gegenterrors und entgegen der allgemeinen Propaganda zeigte sich die Kommune erstaunlich gewaltfrei. Am 10. April verbrannten Frauen auf der Place Voltaire eine Guillotine, als symbolischen Akt der Ablehnung von politischer Gewalt und Gegengewalt.

Es wäre also angebracht, wenn der französische Präsident, dessen Regierung das Arbeitsrecht aushebelte, massiv Stellen im öffentlichen Dienst kürzte, Renten einfror, Sozialsteuern erhöhte und Sozialleistungen ebenso senkte wie die Vermögens- und Unternehmenssteuern, auf Worte des Gedenkens verzichtete. Er ist die freundliche Maske eines weltumspannenden Systems des irrationalen Wachstums und des Krieges der Reichen gegen die Armen, das sich in Europa noch hinter Rechtsstaat und Parlamentarismus zu verstecken und erpresserisch als liberale Alternative zu den Modellen Erdoğan oder Orbán anzupreisen weiß.

Nicht ohne Widerstand

Ein Soziologenteam befragte im Auftrag des TV-Senders Arte 400.000 Franzosen und Deutsche zur Zukunft der Welt. 67 Prozent sprachen sich gegen Wirtschaftswachstum aus, 50 Prozent gaben zu, einzig wegen des Lohns zu arbeiten. Der Lack der totalitären Alternativlosigkeit einer neoliberal gemanagten Welt blättert allmählich ab. Dieses System muss und wird überwunden werden. Doch wird dies nicht ohne Widerstand vonstattengehen.

Eine beliebte Geschichte aus den Tagen der Kommune erzählt von dem minderjährigen Kommunarden, der den Offizier des Exekutionskommandos bat, einem Freund eine geliehene Uhr zurückgeben zu dürfen, auf sein Ehrenwort hin werde er binnen einer Viertelstunde zurück sein. So geschah es, und der Offizier, welcher ebenso gerührt war wie die liberalen Kolporteure dieser Geschichte vom Respekt des Jungen vor dem Privateigentum, ließ ihn laufen. Dem großen Humanisten Pjotr Kropotkin kam eine andere, realitätsnähere Version zu Ohren: Der Junge kam zurück, stellte sich an die Wand und wurde erschossen.

Sollte eine linke Zivilgesellschaft sich doch noch dazu aufraffen, die Eigentumsfrage zu stellen und die notwendige Demokratisierung gesellschaftlichen Reichtums zu fordern, und es der "neoliberalen Internationale" nicht gelingen, sie zu isolieren, zu dämonisieren oder zu kaufen, wird sie sich auf sehr unzivile Gegenmaßnahmen seitens der Besitzstandswahrer und -vermehrer gefasst machen müssen. Das ist so sicher, wie die Sonne auf- und untergeht.

But there is no alternative, außer der Wahl, wie sich die unabwendbaren Verteilungskämpfe einer Zukunft, die längst begonnen hat, gestalten sollen: in Form völkischer Barbarei, neostalinistischen Staatsterrors oder aber der zivilen Usurpation wahrer Egalität im Geiste internationaler Solidarität, für welche die Geschichte mit der Pariser Kommune, mit ihrem chaotischen Pluralismus und trotz ihrer Fehler und Unabgeschlossenheit, nicht das schlechteste Modell zur Verfügung stellt. (Richard Schuberth, 18.3.2021)