Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat wegen des seit langem umstrittenen Maßnahmenvollzugs ein Verfahren gegen Österreich eingeleitet (P.W. v Austria, 10425/19). 2016 wurde eine Frau potenziell lebenslang in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen, weil sie im Zuge ihrer Festnahme mit ihren Händen gegen die Brust einer Polizeibeamtin geschlagen hatte. Die Bundesregierung muss nun bis Juni darlegen, inwiefern diese Einweisung notwendig und verhältnismäßig ist und warum die Frau eingewiesen wurde, obwohl zwei von drei Sachverständigen sie als nicht gefährlich eingestuft hatten und ein Obergutachten verweigert wurde. Und die Republik muss rechtfertigen, warum nur Schläge mit Händen gegen die Brust von Beamten zu einer Einweisung führen können, nicht aber solche Schläge gegen andere Menschen.

Die Gesetze zur Einweisung

In Österreich sind Personen, die eine mit mehr als einem Jahr Freiheitsstrafe bedrohte Handlung begehen, potenziell lebenslang in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher einzuweisen, wenn die Tat unter dem Einfluss einer "geistigen und seelischen Abartigkeit höheren Grades" erfolgt und eine hohe Gefahr zukünftiger Straftaten mit schweren Folgen besteht (§ 21 StGB). Sowohl die höhergradige Abartigkeit als auch die hohe Gefahr künftiger Schwerkriminalität müssen mit voller Bestimmtheit feststehen.

Für die Einweisung genügt eine bloß hypothetisch-abstrakte Besorgnis der Tatbegehung nicht. Eine solche Besorgnis muss vielmehr zu einer real-konkreten Befürchtung verdichtet sein, also mit so hoher Wahrscheinlichkeit vorliegen, dass bei realistischer Betrachtung mit ihrer Aktualität als naheliegend zu rechnen ist.

Die Unterbringung in der Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher erfolgt so lange, wie es der Zweck der Maßnahme erfordert (also potenziell lebenslang) (§ 25 StGB).

Im Verfahren zur Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher sind Betroffene mindestens durch einen Sachverständigen aus dem Gebiet der Psychiatrie zu untersuchen (§ 429 Absatz 2 Ziffer 2 StPO). Weichen die Gutachten zweier Sachverständiger erheblich voneinander ab, so ist ein Gutachten eines weiteren Sachverständigen einzuholen. Handelt es sich um eine Begutachtung psychischer Zustände und Entwicklungen, so ist in einem solchen Fall das Gutachten eines Sachverständigen mit Lehrbefugnis an einer in- oder ausländischen Universität einzuholen (§ 127 Absatz 3, § 429 Absatz 1 StPO).

So weit das Gesetz. Im Folgenden die Realität im Fall von P. W.

Mit Händen gegen die Brust geschlagen

Die (bis dahin strafrechtlich nie auffällig gewesene) Frau wurde 2016 wegen versuchten Widerstands gegen die Staatsgewalt festgenommen, weil sie mit den Händen gegen die Brust einer Polizeibeamtin geschlagen hatte, die eine ausgesprochene Festnahme vollziehen wollte. Diese ursprüngliche Festnahme erfolgte aufgrund verbaler Aggressivität, nachdem ein Taxifahrer wegen Differenzen über den Fuhrlohn die Polizei gerufen hatte.

Noch am selben Tag wurde die Frau von einer Polizeiamtsärztin untersucht, die zu dem Ergebnis kam, dass sie zur Tatzeit zurechnungsfähig war. Im Zuge des Ermittlungsverfahrens kam der von der Staatsanwaltschaft bestellte Sachverständige ebenfalls zum Ergebnis der Zurechnungsfähigkeit und verneinte außerdem eine Gefahr von Taten mit schweren Folgen.

Eine Attacke auf eine Polizistin hatte eine potenziell lebenslange Einweisung in eine Anstalt zur Folge.
Foto: APA/ROLAND SCHLAGER

Ein kurz danach im zivilgerichtlichen Unterbringungsverfahren erstelltes Gutachten kam nach eingehender Untersuchung der Frau ebenfalls zu dem Schluss, dass eine Fremdgefährdung, über wenige Tage hinaus, nicht vorlag.

Die Staatsanwaltschaft erhob Anklage wegen versuchten Widerstandes gegen die Staatsgewalt, und das Gericht holte ein weiteres Gutachten ein. Diese dritte Sachverständige kam zu dem Ergebnis, dass die Frau zur Tatzeit infolge einer "undifferenzierten Schizophrenie" nicht zurechnungsfähig war und dass die Gefahr bestehe, dass sie aufgrund dieser psychischen Erkrankung "irgendwann" durch massive Aggressionsdelikte auffällig werde.

Polizistin fühlte sich nicht bedroht

Daraufhin tauschte die Staatsanwaltschaft den Strafantrag gegen einen Antrag auf Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher aus, und die Frau wurde festgenommen. Seither wird sie (potenziell auf Lebenszeit) angehalten.

In der Gerichtsverhandlung haben die Tochter und der Schwiegersohn ausgesagt, dass es nie Anzeichen dafür gab, dass die Frau zu Gewalt neige, und es nie Vorfälle gegeben hat, in denen sich eine Gefährlichkeit gezeigt hätte. Des Weiteren hat die (von den Schlägen mit der Hand betroffen gewesene) Polizeibeamtin ausgesagt, dass sie keine Angst vor der Frau gehabt habe und in letzter Konsequenz der Pfefferspray zum Einsatz gekommen wäre und dass sie durch die Tat nicht verletzt worden sei.

Trotz dieser Zeugenaussagen und trotz des Umstands, dass von den drei Sachverständigen nur eine eine Gefährlichkeit behauptete, die anderen beiden eine solche jedoch verneinten, hat das Landesgericht Linz die Frau, einzig auf Grundlage des einen Gutachtens, (potenziell lebenslang) in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen.

Obergutachten verweigert

Die Rechtsmittel an den Obersten Gerichtshof und an das Oberlandesgericht Linz blieben erfolglos. Der Antrag der Frau, ein Obergutachten eines Sachverständigen mit universitärer Lehrbefugnis einzuholen, wurde abgewiesen, weil die dritte Sachverständige bei ihrem Gutachten blieb.

Das Regime und der Vollzug der immer häufiger angewandten vorbeugenden Maßnahme für geistig abnorme Rechtsbrecher ("Maßnahmenvollzug") wird als schwer menschenrechtswidrig kritisiert. Wurden vor 35 Jahren noch rund 100 Personen in Anstalten für geistig abnorme Rechtsbrecher angehalten, so sind es heute bereits deutlich über 1.000. Nur in circa 20 Prozent der Fälle erfolgt die Unterbringung aufgrund von schweren Delikten wie Mord, Raub oder gravierenden Sexualdelikten. Es ist ein Trend zu Einweisungen für Delikte mit geringem Gefährdungspotenzial feststellbar. Sieben Prozent der Untergebrachten befinden sich seit mehr als 20 Jahren im Maßnahmenvollzug, bei weiteren zwölf Prozent dauert die Unterbringung zwischen zehn und 20 Jahre.

Vier von fünf Eingewiesenen nicht gefährlich

Die von Justizminister Brandstetter eingesetzte Arbeitsgruppe zur Reform des Maßnahmenvollzugs hat 2015 festgestellt, dass – auch bei bester (korrektester) Begutachtung – von fünf eingewiesenen Personen nur eine einzige tatsächlich gefährlich im Sinne des Gesetzes ist. Vier von fünf in die Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher Eingewiesenen (also 80 Prozent) werden – auch bei bester (korrektester) Begutachtung – ohne Notwendigkeit in diese (potenziell lebenslängliche) Maßnahme eingewiesen, weil – auch bei bester (korrektester) Begutachtung – regelmäßig vier von fünf Prognosen hoher Gefährlichkeit für Schwerkriminalität falsch sind (ebendort).

Diese Expertenarbeitsgruppe des Justizministers hat daher unter anderem zur Wahrung des fundamentalen Verhältnismäßigkeitgrundsatzes (und insbesondere zur Ausscheidung des Delikts des einfachen Widerstands gegen die Staatsgewalt) vorgeschlagen, Einweisungen künftig nur mehr bei Anlassdelikten zuzulassen, die mit mehr als drei Jahren bedroht sind. Justizminister Brandstetter hat daraufhin einen solchen Gesetzesentwurf ausgearbeitet, der bei Delikten mit nicht mehr als drei Jahren Strafdrohung eine Einweisung untersagt, sofern die konkrete Tat nicht Ausdruck einer besonderen Gewaltgeneigtheit des Täters ist, und dabei ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Herausnahme einfachen Widerstands gegen die Staatsgewalt hingewiesen (§ 21 Absatz 3 neu Strafgesetzbuch und Erläuterungen Seite 7).

Eingewiesen wegen Verletzung der staatlichen Autorität

Lediglich aufgrund eines solchen (versuchten) einfachen Widerstands gegen die Staatsgewalt wurde P. W. (potenziell lebenslang) in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher eingewiesen. Eine Körperverletzung oder auch nur ein Versuch einer solchen wurde ihr niemals vorgeworfen. Die Grundlage ihrer Anhaltung ist daher letztlich nicht Gewalt, sondern die Verletzung der Autorität des Staates.

Ihre Tat – Schlagen mit Händen gegen die Brust eines anderen Menschen ohne Verletzungsfolge und ohne Verletzungsvorsatz – konnte nur deshalb die (potenziell lebenslange) Einweisung in eine Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher zur Folge haben, weil es sich bei dem anderen Menschen um eine Beamtin während einer Amtshandlung handelte. Hätte sie dieselbe Tat am selben Ort zur selben Zeit gegenüber jedem anderen Menschen gesetzt, hätte sie nie eingewiesen werden dürfen. (Helmut Graupner, 19.3.2021)