Ethiker Ulrich H. J. Körtner geht in seinem Gastkommentar der Frage nach, ob geimpften oder genesenen Personen mehr Freiheiten zugestanden werden sollten als anderen. Lesen Sie dazu auch den Gastkommentar von Peter Bußjäger und David Stadelmann: "Grün gilt als Farbe der Hoffnung".

Wie sich die Zeiten ändern! Vor Monaten noch war die größte Sorge der politischen Verantwortlichen in der Corona-Pandemie, die Impfbereitschaft in der Bevölkerung könnte zu gering sein. Inzwischen hat sich die Stimmung gedreht. Die Vakzine von Biontech, Moderna, Astra Zeneca und Co leuchten als Sterne der Erlösung in Corona-Zeiten. Statt Impfskepsis dominiert die Verärgerung über eklatante Fehler und politisches Versagen bei der Umsetzung einer effizienten Impfstrategie.

Sind die derzeitigen Grundrechtseinschränkungen legitim? Gilt das auch für Geimpfte und Genesene? Braucht es hier Solidarität?
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Solange Impfstoffe knapp sind, braucht es Kriterien für ihre gerechte Verteilung. Nationale Impfkommissionen haben Priorisierungslisten erstellt. Menschen, die ein besonders hohes Gesundheitsrisiko tragen, allen voran Hochbetagte, kommen zuerst an die Reihe. Das ist solidarisch und erscheint als gerecht. Intransparenz beim Impfen und Beispiele von Personen, die vorgereiht werden, haben freilich eine neue Gerechtigkeitsdebatte ausgelöst.

Derweil ist eine Kontroverse darüber entbrannt, ob Geimpfte vorzeitig jene Freiheiten zurückerlangen sollen, die seit einem Jahr für alle zum Zwecke der Pandemiebekämpfung beschnitten worden sind. Ist das fair, wenn der Rest der Bevölkerung noch immer vergeblich auf einen Impftermin wartet? Von neuen Freiheiten ist die Rede, gar von Privilegien für Geimpfte. Israel macht vor, wie das auch hierzulande gehen könnte. Dort sind allerdings schon gut 50 Prozent der Bevölkerung vollständig – also schon zum zweiten Mal – geimpft, in Österreich dagegen erst 3,2 Prozent.

Verfrühte Debatte?

In Anbetracht solcher Zahlen mag die Debatte über neue Freiheiten für Geimpfte hierzulande verfrüht erscheinen. Es ist aber notwendig, sie schon jetzt zu führen, zumal der Staat Privatpersonen und Unternehmen wie Fluggesellschaften oder Restaurants wohl rechtlich kaum verbieten kann, von ihren Kunden künftig einen Impfnachweis zu verlangen.

Jeder, der sich impfen lässt, schützt damit nicht nur sich selbst, sondern leistet auch einen Beitrag dazu, Intensivstationen und das Gesundheitssystem insgesamt vor dem Kollaps zu schützen. Die Impfung ist somit auch ein anerkennenswerter Akt der Solidarität. Von Impfprivilegien zu sprechen geht deshalb grundsätzlich in die falsche Richtung. Schließlich leben wir in einer freiheitlichen, rechtsstaatlichen Demokratie und nicht in einem Feudalstaat, in dem die Obrigkeit bei entsprechendem Wohlverhalten ihren Untertanen gnadenhalber Privilegien erteilt. Nicht um Privilegien geht es, sondern um die Wiederherstellung von Grund- und Freiheitsrechten. Nicht deren Einhaltung bedarf der Rechtfertigung, sondern ihre Beschneidung.

"Gerechtigkeit und Solidarität sind ein hohes Gut. Sie dürfen aber nicht auf Kosten der Freiheit erzwungen werden."

Die derzeitigen Grundrechtseinschränkungen sind allerdings legitim, soweit durch sie größere Bevölkerungsteile vor langfristigen gesundheitlichen Beeinträchtigungen und das Gesundheitssystem vor einem möglichen Kollaps geschützt wird, der durch eine hohe Zahl von schweren oder gar tödlichen Covid-19-Verläufen ausgelöst werden könnte. Dieses Ziel ist ethisch gerechtfertigt, nicht aber, der Bekämpfung der Pandemie alles andere unterzuordnen. Der Staat hat die Aufgabe, für Sicherheit zu sorgen und Leben zu schützen, nicht aber, den Tod überhaupt aus dem Leben zu verbannen. Mit Recht stellt der Deutsche Ethikrat fest: "Die vollständige Ausrottung von Sars-CoV-2 ist weder ein realistisches noch notwendiges Ziel einer erfolgreichen Impfstrategie."

Gerechtigkeit und Solidarität sind ein hohes Gut. Sie dürfen aber nicht auf Kosten der Freiheit erzwungen werden. Andernfalls landen wir in autoritären Verhältnissen nach chinesischem Vorbild. Freiheit ist allerdings gepaart mit Verantwortung und findet ihre Grenzen bei der Freiheit des anderen. Sollte sich herausstellen, dass die Impfung die weitere Ausbreitung von Covid-19 und seinen Mutanten weitgehend unterbindet, wird man auch über eine allgemeine Impfpflicht oder zumindest über eine solche für bestimmte Berufsgruppen nachdenken müssen.

Weiterhin mit Maske

Solidarität bedeutet außerdem, dass es besondere Unterstützungsmaßnahmen für diejenigen braucht, die zum Beispiel aufgrund von Vorerkrankungen oder sonstigen gesundheitlichen Risiken nicht geimpft werden können. Auch ihnen ist eine weitgehende Teilhabe am öffentlichen Leben zu ermöglichen, sei es durch Schnelltests, sei es durch Immunitätsbescheinigungen für Menschen, die bereits an Covid-19 erkrankt waren. Dafür braucht es digitale Lösungen.

Solange die Impfquoten noch zu gering sind und auch nicht geklärt ist, ob Geimpfte derart immunisiert sind, dass sie andere nicht mehr anstecken können, werden sich Lockerungen auch für sie vorerst in Grenzen halten. Man kann ihnen zum Beispiel zumuten, weiterhin eine Maske im öffentlichen Raum zu tragen und Abstandsregeln einzuhalten. Verglichen mit der Gefahr, dass andernfalls die Bereitschaft der (noch) nicht Geimpften sinken könnte, weiterhin die geltenden Hygiene- und Abstandsregeln zu befolgen, sind solche geringfügigen Eingriffe in die persönliche Freiheit von Geimpften vertretbar. Grundsätzlich aber gilt: Je umfassender die vorrangigen Ziele der Impfstrategie erreicht werden, desto rascher müssen bestehende Freiheitsbeschränkungen aufgehoben werden.

Damit zu warten, bis auch der letzte Impfwillige immunisiert ist, lässt sich rechtlich und ethisch nicht rechtfertigen. Warum beispielsweise in einem Altenheim, in dem fast alle Bewohner und auch das Personal geimpft sind, weiterhin Besuchsbeschränkungen herrschen sollen oder die Cafeteria nicht aufsperren darf, ist nicht ersichtlich. (Ulrich H. J. Körtner, 19.3.2021)