Monika Alizada bringt aus der Küche drei Teller, auf die sie Kuchen und süßes Gebäck aufgetürmt hat. Sie bietet ihren Gästen die Couch an und kniet sich selbst mit einer Tasse Tee auf den Boden. "Das ist mir lieber", sagt sie, "so bin ich es gewohnt." Alizada trägt einen blauen Hosenanzug und ein dunkles Kopftuch.

Sie ist ungefähr 31 Jahre alt, genau weiß sie ihr Geburtsdatum selbst nicht, in ihrem Dokument steht 1. Jänner 1990. "Das Jahr sollte stimmen", sagt sie. 2015 ist die Afghanin mit ihrer Familie nach Österreich geflohen, so viel ist gewiss.

Auf ihrer Couch sitzen nun drei Gäste, ein Fotograf, ein Reporter, ein Dolmetscher. Kuchen hat Frau Alizada allerdings mindestens für zehn gebacken. Auf diese Weise zeigt man sich vielleicht gastfreundlich, wenn einem die Worte fehlen. "Ich bin nie zur Schule gegangen", berichtet Alizada fast beiläufig. "Ich kann nicht lesen, nicht schreiben."

Alizada erzählt von ihrem alten Leben in einer kleinen afghanischen Stadt namens Baglan und von ihrem neuen Leben in der noch kleineren Stadt Bruck an der Leitha. In 31 Jahren hat sie schon einiges erlebt – Fluchten, Geburten, Abschiede.

Im Dezember 2015 kam Alizada mit ihrem Ehemann und drei Kindern in Österreich an. Mittlerweile ist die zweijährige Sarah hinzugekommen. Ihr Ehemann Samad hat Arbeit bei einer Baufirma gefunden. Die Familie wohnt zu sechst in einer Wohnung am Stadtrand von Bruck. Die vier Kinder schlafen alle im selben Zimmer, sogar im selben Bett. "Es ist ein großes Bett", erklärt Monika Alizada.

Monika Alizada aus Bruck an der Leitha ist Mutter von vier Kindern.
Foto: Robert Newald

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel sprach im August 2015 erstmals die Worte: "Wir schaffen das." Der Satz hat zwischen die politischen Lager in Europa eine breite Schneise geschlagen, auch in Österreich. "Wir schaffen das nicht", meinten viele Österreicher. Nach der großen Fluchtbewegung im Jahr 2015 war nur eins für die meisten klar: Die Menschen sind nun da, viele würden bleiben.

Aktuell steht die rigorose Flüchtlingspolitik der heimischen Regierung wieder in der Kritik. Vor wenigen Monaten behaupteten die ÖVP-Minister Karl Nehammer und Susanne Raab noch, Österreich habe im Vorjahr mehr als 5.000 unbegleitete Minderjährige aufgenommen. Nun weiß man: Es waren tatsächlich nur 186 unbegleitete Minderjährige, die im Jahr 2020 in Österreich Schutz fanden, wie eine parlamentarische Anfrage der Neos ergab.

Fest steht: Ein Land kann es natürlich nur "schaffen", wenn es die Geflüchteten schaffen. Wie läuft es nach mehr als fünf Jahren in Österreich für sie? Wobei es ja kein "sie" gibt. Die Geschichten sind so verschieden wie die Herkunftsländer der Geflüchteten.

Probleme unterschiedlicher Natur

In ihrer Altbauwohnung in Wien-Alsergrund fährt Fatemeh Bakhtiari gerade ihren Laptop hoch. Die 22-jährige Iranerin verbringt ihre Vormittage derzeit mit Leuten wie Professor Andreas Limbeck. In einem Video auf ihrem Bildschirm doziert der Wissenschaftler vor einer Schreibtafel in einem Hörsaal der TU Wien. Bakhtiari, Kapuzenpulli, blau lackierte Fingernägel, studiert Technische Chemie – wie ihre Kollegen derzeit virusbedingt ohne das Uni-Gebäude im vierten Bezirk zu besuchen.

2014 ist Bakhtiari aus der iranischen Großstadt Ahvaz über die Türkei nach Österreich geflohen. Die genauen Hintergründe will sie lieber nicht nennen. "Familiäre Gründe", so formuliert sie es. Ihre Mutter habe ihr aber beim Weglaufen geholfen. Noch auf der Flucht, damals gerade in Athen, konvertierte Bakhtiari vom Islam zum Christentum. "Das war jetzt nicht die größte Entscheidung meines Lebens", sagt Bakhtiari, "aber ich habe mir davon zumindest mehr Freiheit versprochen."

Bakhtiari spricht fließend Deutsch, 2019 hat sie in Wien maturiert. Auch sie hat zwar so ihre Probleme, in Österreich voranzukommen. Das Geld ist knapp, Bakhtiari arbeitet deshalb nebenbei als Sprechstundenhilfe einer Ärztin, vorübergehend saß sie auch an einer Supermarktkassa. Der Weg zum Studienabschluss als Bachelor kommt ihr noch schrecklich weit vor. Aber ihre Probleme sind ganz anderer Natur als jene von Monika Alizada.

Fatemeh Bakhtiari, Studentin an der TU Wien, flüchtete aus dem Iran.
Foto: Christian Fischer

Bei der Mutter aus Afghanistan geht es nicht wie bei Bakhtiari um einen Abschluss an einer Hochschule, nicht um einen möglichen Aufstieg, sondern erst einmal um einen Einstieg. Sie wolle möglichst schnell Deutsch lernen, versichert Alizada. Für mehrere Kurse war sie schon angemeldet, dann kamen Dinge dazwischen. Sie wurde mit ihrem vierten Kind schwanger, später gab es keinen Deutschkurs in Bruck mehr.

Ohnehin müsste Alizada das Projekt Deutschlernen mit einem sogenannten A0-Kurs beginnen, da sie Analphabetin ist. Damit falle sie aus AMS-Maßnahmen heraus, erzählt der Flüchtlingshelfer Peter Windholz, der die Familie gut kennt. "Sie will das wirklich, aber es gab ein paar Widrigkeiten", sagt er. Windholz‘ Lebensgefährtin brachte Alizada eine Zeit lang privat das Lesen und Schreiben bei. Dann kam Corona.

Alizada hat gelernt, Texte zu verschicken, ohne schreiben zu können. Auf dem Teppich kniend zieht sie lächelnd ihr Smartphone hervor und erklärt: "Mit Google Translate." Dann zeigt sie vor, wie sie dies anstellt. Sie kopiert den deutschen Text "Hallo, wie geht’s", den sie auf Whatsapp geschickt bekommen hat, auf die Website von Google Translate und tippt auf das Lautsprecher-Symbol. Damit lässt sich Alizada von Google vorlesen. Wenn sie zurückschreibt, macht sie dasselbe, nur umgekehrt. Sie spricht die Worte "Danke, gut" ins Handy, die Google dann für sie aufschreibt, und kopiert diese in Whatsapp.

Als Alizada in Afghanistan aufwuchs, war es ihr als Frau verboten, alleine rauszugehen. Das Leben blieb begrenzt auf das Haus und den Garten. Wenn Alizada erzählt, sie mache nun mit ihren Kindern Ausflüge nach Wien und gehe beim Hauptbahnhof Pizza essen, ist das für sie nicht selbstverständlich. Frau Alizada bemüht sich um die Ausweitung ihrer Komfortzone. Fragt man sie, ob sie in Afghanistan gearbeitet hat, antwortet sie: "Wir hatten fünf Kühe, Schafe und Esel. Ich habe zuhause gearbeitet."

Warum Alizada und ihr Mann wegliefen? Sie selbst ist Paschtunin, ihr Ehepartner gehört zu den Hazara, seine Volksgruppe wird in Afghanistan verfolgt. Alizadas Eltern wollten ihrer Tochter die Beziehung verbieten. So flüchtete das junge Paar vor rund zehn Jahren zunächst in den Iran, von dort erst fünf Jahre später nach Österreich. "Ich habe meine Eltern nie wiedergesehen", erzählt Alizada. "Ich habe sogar ihre Gesichter vergessen, und ich bin froh darüber."

AMS-Kurs und Theaterstück

Die Ehe von Alia Nasser* aus Syrien nahm hingegen einen anderen Verlauf, nachdem sie hierher geflüchtet war. Die zierliche Frau, heute 35 Jahre alt, ließ sich in Österreich scheiden. Nasser wohnt nun allein mit ihren drei Söhnen, die zwischen 11 und 14 Jahre alt sind, in einer Wohnung in Langenlois. Sie stellt zum Gespräch arabischen Kaffee mit Kardamom auf den Tisch und erzählt, ihr Ex-Mann sei 13 Jahre älter als sie. "Ich habe in Syrien nicht gearbeitet, ich habe geheiratet", sagt Frau Nasser und lacht.

Nachdem sie im Jahr 2015 nach Österreich geflüchtet war, besuchte sie hier AMS-Kurse und spielte in einem Theaterstück mit. Die Gründe, sich von ihrem Mann zu trennen, lässt Nasser lieber im Ungefähren. Sie merkte in Österreich wohl bald, dass hier andere Dinge möglich sind als in ihrer Heimat – dass Paare einfach auseinander gehen. Von der Familie ihres Ex-Mannes seien wegen der Scheidung über die sozialen Medien Drohungen geschickt worden, heißt es aus Nassers Umfeld. Ihr Ex wohnt heute in einem anderen Ort in Niederösterreich. Im April wird sie beginnen, in einer Schneiderei zu arbeiten. Mal schauen, ob es funktioniert, am liebsten würde sie ja Friseurin, Köchin oder Kindergartenpädagogin werden.

Alia Nasser* aus Langenlois ließ sich in Österreich scheiden.
Foto: Robert Newald

Auch die Monika Alizada aus Afghanistan sagt, sie wolle bald arbeiten, vielleicht als Köchin oder als Schneiderin. Sobald ihre Tochter drei Jahre alt ist, möchte sie Geld verdienen. Das wäre in einem halben Jahr. Es lässt sich nicht klar heraushören, ob sie sich der Hürden auf dem heimischen Jobmarkt bewusst ist. Auf jeden Fall klingt es optimistisch. "Die Menschen unterschätzen oft die Schwierigkeiten, auf dem österreichischen Arbeitsmarkt auch wirklich Fuß zu fassen", stellt die Flüchtlingshelferin Helga Longin fest. Sie engagiert sich wie Windholz im Verein "Unser Bruck hilft" "Manche Flüchtlinge haben einen idealisierten Blick auf ihre berufliche Zukunft", sagt Longin.

In Wien hat die Studentin Fatemeh Bakhtiari diese Naivität abgelegt. Sie merkte, dass sie Ärger bekam, wenn sie an ihren Samstagen an der Supermarktkassa nicht schnell genug arbeitete. Und sie hörte Kunden ausländerfeindliche Sätze murmeln, nur weil sie einen leichten Akzent hat.

"Viele Menschen aus Syrien, Afghanistan und dem Iran glauben, es ist hier wie im Paradies", sagt Bakhtiari, "aber das Leben in Österreich ist auch nicht einfach." Hier habe sie natürlich viel mehr Rechte, und es gebe größeren Wohlstand, aber man selbst müsse auch fleißig sein. "Dabei hatte ich noch Glück, dass ich 17 war, als ich in Österreich angekommen bin, und zur Schule ging." Ihr Studium kann sich Bakhtiari auch deshalb finanzieren, weil eine ältere Dame in ihrer Wohnung ein Zimmer um 250 Euro an sie vermietet hat.

Viele Faktoren entscheiden

Sprache, Wohnung, Arbeit, Freunde – all dies gilt als entscheidend für die Integration. Aber wenn man mit geflüchteten Menschen spricht, merkt man, wie wichtig auch Helfer sind, gerade am Anfang. Welche Menschen man nach der Ankunft trifft und was diese für einen tun, entscheidet darüber mit, ob man es "schafft", hier nicht nur irgendwie durchzukommen, sondern auch anzukommen.

Aber was heißt, "es zu schaffen"? Nach den Maßstäben von Kanzler Sebastian Kurz und Frauenministerin Raab ist Monika Alizada vermutlich kein Musterbeispiel der Integration. Weil sie wenig Deutsch kann und bisher nicht arbeitet. Und doch führt sie ein völlig anderes Leben als in Afghanistan. Sie geht hinaus und versucht, in der Schule ihrer Kinder, in Ämtern oder in Ordinationen selbst ihre Probleme zu lösen, nur mit Mut und Google Translate.

"Es sind scheinbar kleine Schritte, dass man einmal eine Wohnung bekommt, dass die Kinder in die Schule gehen können, dass man krankenversichert ist, dass man vielleicht am Wochenende nach Wien fährt und in den Prater geht. Aber sie bedeuten den Menschen unglaublich viel", sagt Flüchtlingshelfer Peter Windholz. "Für sie sind es große Schritte."

*Name von der Redaktion geändert (Lukas Kapeller, 20.03.2021)