Friseure, so Sebastian Borger, haben in London nach wie vor nicht geöffnet.

Foto: Borger

Nun habe auch er die Impfeinladung erhalten, hat Premierminister Boris Johnson am Mittwoch stolz verkündet. Na endlich, dachte ich, es wurde auch langsam Zeit. Denn Mittfünfziger wie der 56-jährige Regierungschef werden in der britischen Hauptstadt schon seit Monatsbeginn von ihren Hausärzten zur Corona-Impfung gerufen. Im ganzen Land können sich alle Menschen, die ihren 50. Geburtstag hinter sich haben, mittlerweile auch über die Website des nationalen Gesundheitssystems NHS anmelden.

Ich selbst bekam die SMS meiner Arztpraxis an einem Donnerstagnachmittag vor vierzehn Tagen. Der Link führte mich zu einer NHS-Website, die mir zwei Standorte, beide etwa 50 Fußminuten entfernt, und eine Vielzahl von Terminen anbot. Der nächstmögliche wäre am Samstagabend gewesen, ich entschied mich für den Sonntagvormittag.

Den phänomenalen Erfolg der britischen Impfkampagne – bisher haben mehr als 25 Millionen Menschen, darunter 95 Prozent der über 65-Jährigen, ihre erste Dosis erhalten – hatte ich von Anfang an im eigenen Umfeld miterlebt. Schon Mitte Dezember durften zwei gesundheitlich vorbelastete Nachbarinnen über 80 in einem der örtlichen Impfzentren antreten. Dabei handelt es sich um eine kleine Poliklinik mit mehreren Hausärztinnen, Physiotherapeutinnen und Diätberaterinnen. Sie liegt, behindertenfreundlich zu ebener Erde, in einer ruhigen Seitenstraße unweit eines U-Bahnhofs. Die beiden Zugänge erleichtern den notwendigen Einbahnverkehr der Impfkandidaten.

Größere Abstände

Die beiden Nachbarinnen erhielten im Dezember und Jänner beide Dosen des Biontech/Pfizer-Vakzins. Zur Jahreswende gab die Regierung dann die Parole aus: Fortan werde der Abstand zwischen erster und zweiter Dosis von drei Wochen auf bis zu drei Monate vergrößert. Zur Eindämmung der Pandemie, so lautete die Überlegung, sind viele Millionen Menschen mit der Immunität durch eine Dosis viel besser als wenige Millionen mit dem vollständigen Schutz durch zwei Dosen.

Zur gleichen Zeit begann die Impfung mit dem an der Uni Oxford entwickelten und von Astra Zeneca (AZ) hergestellten Wirkstoff AZD1222. Um die gleiche Zeit geisterten unbestätigte Berichte durch die Gazetten, wonach Patienten "lieber das britische Präparat" haben wollten. Bei meinen eigenen Gesprächen mit Ärzten, freiwilligen Helfern und dem Dekan der Kathedrale von Salisbury, die immer wieder tageweise als Impfzentrum dient, hörte ich hingegen nie, dass Präferenzen geäußert wurden. Hauptsache geimpft! "Die alten Menschen sind so dankbar, die hüpfen fast vor Begeisterung", berichtete eine Ärztin vergnügt. Mit dem einfacher zu handhabenden AZ-Präparat gingen praktische Ärzte auch auf Hausbesuche, wovon Ende Jänner meine 88-jährige Schwiegermutter profitierte.

"Kommen Sie doch bitte trotzdem"

Seither berichteten Freunde und Bekannte immer häufiger von Terminen für kerngesunde 72-Jährige, 65-Jährige, 60-Jährige ... plötzlich sogar für eine deutlich jüngere Freundin! Die rief deshalb extra bei ihrem Hausarzt an. Tja, da habe der Computer wohl einen Fehler gemacht, erhielt sie zur Antwort. "Aber bis wir den Fehler gefunden, sie von der Liste genommen und auf eine spätere Liste platziert haben, vergeht wertvolle Zeit – kommen Sie doch bitte trotzdem."

Solcherlei gesunden Pragmatismus hätte man auch jenen Experten und Politikern auf dem Kontinent gewünscht, die nun AZD1222 wegen äußerst seltener Nebenwirkungen schlechtreden. Ich selbst hatte auf Empfehlung wohlinformierter Freunde vorab zwei Paracetamol-Tabletten genommen, wodurch am Impftag alles Unwohlsein wegfiel. In der anschließenden Nacht erlebte ich den vielbeschriebenen Schüttelfrost und ziemlich scheußliche Kopfschmerzen, war einen Tag lang sehr schlapp. Damit war die Sache erledigt.

Bei Menschen, die eine Covid-19-Erkrankung hinter sich haben, soll die Reaktion des Körpers manchmal heftiger ausfallen. Ich will es Boris Johnson nicht wünschen. Dass er vorab schon wusste, man werde ihm das AZ-Präparat spritzen, liegt wohl am Insiderwissen des Premierministers – weder ich selbst noch ein einziger der mehr als zwei Dutzend Menschen, mit denen ich darüber sprach, wusste vorab, welchen Impfstoff wir erhalten würden. (Sebastian Borger aus London, 19.3.2021)