Im Gastkommentar fordern der Jurist Peter Bußjäger und der Volkswirt David Stadelmann: Immunitätszertifikate müssen schnell implementiert werden, damit sie ihre Freiheitswirkung noch entfalten können. Lesen Sie auch den Gastkommentar von Ethiker Ulrich H. J. Körtner: "Freiheit für Geimpfte?".

Mehr Freiheiten für Genesene und Geimpfte? Was spricht aus rechtlicher Sicht dafür? Was dagegen?
Foto: AFP / Jack Guez

Seit der Zertifizierung von Corona-Geimpften und -Genesenen in Israel mittels grüner Pässe hat auch in Österreich und der EU eine Diskussion über derartige Pässe und damit verbundene Freiheiten begonnen. Möglicherweise ebenfalls durch die israelischen Pässe ins Grübeln gekommen, argumentieren mittlerweile zahlreiche nationale Ethikkommissionen – darunter die Bioethikkommission in Österreich –, dass eine Freistellung von Einschränkungen für Immune und Geimpfte kein Privileg sei.

Kein Privileg

Selbstverständlich ist die Rücknahme von Einschränkungen der individuellen Freiheit kein Privileg, sondern ein Grundprinzip in der liberalen Demokratie, wenn das öffentliche Interesse, das die Restriktionen grundsätzlich gerechtfertigt hat, nicht mehr verwirklicht werden kann. Das ist dann der Fall, wenn eine Person zumindest auf einen gewissen Zeitraum hin immun ist und daher nicht mehr gefährdet sein kann und auch für andere keine relevante Gefährdung mehr darstellt.

Was im öffentlichen Diskurs gerne als ungerechtfertigte Bevorzugung angeprangert wird, ist verfassungsrechtlich betrachtet sogar ein Gebot: Der Gleichheitssatz gebietet, Gleiches gleich und Ungleiches ungleich zu behandeln. Nichtimmune und Immune unterscheidet, dass die einen die Krankheit verbreiten können, die anderen eben nicht. Wenn die Restriktionen die Verbreitung der Krankheit verhindern sollen, was nützt es, beide gleich zu behandeln?

Der Wert der Immunität

Aus volkswirtschaftlicher Sicht war bereits zu Beginn der Krise klar, dass Immunität – sei sie natürlich erlangt nach Genesung oder künstlich nach Impfung – immer einen Wert und damit eine zentrale Ressource zur Lösung der Krise sein würde. Daher war und ist es auch ökonomisch absurd, bereits Immune Lockdowns, Quarantänen und weitgehenden Einschränkungen auszusetzen. Das gilt für normale Arbeitskräfte genauso wie Pflegepersonal oder die hart isolierten zu Pflegenden. Die Gesellschaft war und ist weiterhin auf die Immunen angewiesen.

Eine frühe Parole von uns war deshalb, Genesene zu suchen, zu finden und mit einem Zertifikat im Stil eines grünen Passes auszustatten, das ihre Immunität dokumentiert. Derartige Zertifikate hätten auch impfinduzierte Immunität erfasst und den Inhabern bereits seit langem gewisse Freiheiten zurückgeben können. Selbst wer aus Unsicherheit keine expliziten Rechte an Immunitätszertifikate binden wollte, hätte die Idee nützen können: Selbst bei beschränkter Immunität lag die Idee nahe, Genesene nachrangig oder nur einmal zu impfen – immerhin war absehbar, dass die Impfstoffe zunächst knapp sein würden. Noch immer könnte die Berücksichtigung der natürlichen Immunität den Impffortschritt beschleunigen, Leben retten und das Leben für viele erleichtern.

Dezentrale Lösung?

Können Immunitätszertifikate oder grüne Pässe nun bei der Krisenbewältigung helfen? Sie sind weiterhin volkswirtschaftlich wichtig und rechtlich geboten. Allerdings müssten sie nun sehr schnell implementiert werden, damit sie ihre Freiheitswirkung noch entfalten können. Bei kompetenter Regierungsarbeit bräuchten sie wohl eine Vorlaufzeit von einem Monat. Realistischerweise dürfte der Vorlauf deutlich länger dauern. Wer auf eine funktionierende EU-weite Lösung wartet, wird sowieso noch mehrere Monate ins Land ziehen sehen. Schneller ginge es auf regionaler Ebene: Gebietskörperschaften wie Bundesländer könnten selbstständig Immunitätszertifikate ausstellen und damit schrittweise Restriktionen auch für alle anderen Bevölkerungsgruppen reduzieren. Denn jeder Immune trägt dazu bei, dass die Gefahr für alle noch nicht Immunen sinkt.

Entscheidend bei einer dezentralen Lösung ist, dass die Gebietskörperschaften ihre Zertifikate untereinander anerkennen, was in den meisten Fällen unproblematisch sein dürfte, und das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung ("Cassis de Dijon") in der Union angelehnt ist. Ähnlich wie Güter, die rechtmäßig von einem EU-Staat in Verkehr gebracht wurden, auch in anderen Mitgliedsstaaten verkauft werden dürfen, könnten Zertifikate eines Staates auch in anderen Staaten gelten. Viele Österreicher würden sowieso eher davon profitieren, wenn in ihrem Bundesland oder in Österreich derartige Zertifikate zu weniger Einschränkungen führten, und es wäre nicht besonders schlimm, wenn ein "grünes AT-Immun-Zertifikat" vielleicht nicht sofort auch in Portugal volle Gültigkeit hätte. Der scheinbare Perfektionismus in der EU ist der Feind des Pragmatismus und echter Lösungen.

Langes Warten

Noch problematischer als die Schwäche der Regierungen in der Umsetzung ist die Ideologie mancher politischen Dramaturgen, die auf absolute Gleichheit drängen. Viele von ihnen möchten den Immunen ihre Freiheiten erst wieder geben, wenn vielleicht im Herbst 2021 weitgehende Herdenimmunität und eine Impfmöglichkeit für alle bestünde. Das lange Warten bis dahin brächte riesige gesellschaftlichen Schäden und wäre schlechthin verfassungswidrig. Zudem dürfte es mit der Zeit immer schwieriger werden, genügend Impfwillige zu finden. Wer Immunitätszertifikate erst einsetzt, wenn alle geimpft werden können, hätte die wertvollste Ressource gegen Corona niemals sinnvoll genutzt.

Eines ist klarzustellen: Immunitätszertifikate dienen als Weg zurück in die Normalität. Sobald Herdenimmunität besteht oder genug Impfstoff für alle zur Verfügung steht, ist die gesundheitliche Krise weitgehend gelöst. Spätestens dann verlieren derartige Zertifikate – bis auf wenige Ausnahmen bei internationalen Reisen oder im medizinischen Bereich – ihre Notwendigkeit und damit auch ihre rechtliche Begründung. Wenn sich jeder, der möchte, dank der Verfügbarkeit von Impfungen selbst ausreichend schützen kann, ist es verfassungsrechtlich fragwürdig, selbst Impfverweigerer übermäßig in ihren Freiheiten einzuschränken: Bei Großveranstaltungen und im öffentlichen Verkehr gefährden sie höchstens noch sich selbst oder andere, die sich nicht schützen wollen. Es gilt also bereits jetzt sicherzustellen, dass das Krisenlösungsinstrument nicht zum bloßen Kontroll- und Zwangsinstrument mutiert. (Peter Bußjäger, David Stadelmann, 19.3.2021)