Ein Jahr ohne Konzerte. Verfallene Tickets. Keine verschwitzten Menschenmengen, kein Arena-Open-Air, kein lauwarmes überteuertes Stadionbier, kein Konzert im Stammbeisl, nichts, Stille. Immerhin wird zu Hause auf Wunsch des Kindes fast wöchentlich clublos zu Róisín Machine von Róisín Murphy ausdrucksgetanzt. "I want something more", brüllen wir beide ein paar Nummern später, mehr Leute treffen, mehr Spielplatz mit den kleinen Hawerinnen, mehr alles einfach.

Beim italienischen Delikatessengeschäft bricht sich die Rührung Raum, aber tatsächlich nicht wegen zig Sorten Mortadella, des Himmels voller Parmaschinken, Zitronentorte, Moretti-Bier und Lemon Soda, sondern es ist der einfachste Trick von allen, im Hintergrund läuft ein beliebiger italienischer Radiosender, und schlagartig ist es dank heftiger Erinnerungen ans schöne Anderswosein um die finanzielle Zurückhaltung in Sachen Lebensmittelerwerb geschehen.

Radiosender hat der Mensch im Leben mehrere.
Foto: Istock/Getty images

Been Around the World and I, I, I

Radiosender hat der Mensch im Leben mehrere, ich bin vor Jahren mit fliegenden Fahnen zu BBC 6 Music gewechselt. Eine Redaktion, die Hörer liebt, von Musik aller Genres, von der ganzen Welt und vielen Jahrzehnten vorurteilsfrei eine Ahnung hat, jeden Freitagabend nuschelt Iggy Pop unverständliches Zeug zu seiner schrulligen Musikauswahl. Im Büro läuft Radio Wien, das stört nicht beim Arbeiten, und wo sonst darf Phil Carmen On My Way To LA singen und mir Chris Rea das musikalische Tageshoroskop spielen? Das Glück liegt irgendwo zwischen Tom Jones und Minisex. In der tageweise geteilten Wiener Einzimmer-Arbeits-Wohnung gibt es am Uraltradio mit Kassettendeck einen Kampf zwischen Ö1 (die anderen) und Radio Superfly (ich), weil Anna-Jeller-Buchtipps und aufwachen mit Miriam Hie.

Auf Twitter stolperte ich letztens über die Homepage Radio Garden. Man sieht eine nächtliche Erdkugel aus der Vogelperspektive, samt Kontinenten, Wüsten, Bergen und Meer, gemustert mit neongrünen Punkten, kleineren und größeren, in unterschiedlicher Dichte. Überall da, wo so ein Punkt aufleuchtet, befindet sich ein Radiosender. Was für ein tröstlicher Gedanke: Pandemie, Apokalypse hin oder her, an unendlich vielen Orten auf der Welt sitzt jemand in einem Studio und versorgt die Welt mit Nachrichten, Musik oder einfach nur mit einer Stimme in der Nacht.

Die Homepage Radio Garden zeigt Orte mit Radiosendern.
screenshot: radio garden

Radio Fantastica

Ich fange in Frankreich an, weil wenn etwas Kiss FM heißt und aus Nizza kommt, aber David Guetta vertreibt mich schnell. Fréquence Mistral Gap spielt Band of Horses, sie sagen "Bönd of Orsis", man kriegt Sehnsucht nach Frankreich, das Foto von Gap auf Wikipedia sieht aus wie ein Ölschinken mit Berggipfeln und einem Regenbogen mittendrin, Provence-Alpes-Côte d’Azur, Alpenstadt des Jahres 2002, ja, ich will. Bei Natalie Jane Imbruglia haben sie mich allerdings verloren.

Autohauswerbung auf 103,7 Radio Arcobaleno Palermo, ich bin wohl zum falschen Zeitpunkt hier gelandet, aber auch Volkswagen klingt auf Italienisch viel herziger. Überhaupt, Radio Fantastica, Radio Azzurra, Sizilien hat die hübschesten Sendernamen, das steht fest.

Auf Campus FM Malta erfährt man alles über Blutgerinnsel nach dem Impfen, Covid-19 ist überall, verständlich in allen Sprachen der Welt, ich weiß auch nicht, wieso ich dachte, dem ausgerechnet im Radio entrinnen zu können. Man muss sowieso weiter weg, die Maus bewegt sich, die Erdkugel dreht sich, es rauscht im Äther oder tut zumindest so, Miraya FM aus Juba im Südsudan, "the voice of peace", spielt das Orchestra Les Noi’rs, und dann I Got 5 On It von Luniz, irgendwo da draußen sind immer noch die 90er, an Orten, wo man sie nicht vermutet.

"If you fall, I will catch you, I will be waiting, time after time", richtet mir mit einer Stunde Zeitverschiebung Royal FM aus Kigali, Ruanda, freundliche Grüße von Cyndi Lauper aus. Radio Paradisagasy auf Madagaskar führt mich zu Madagaskar-Tourismus, Majunga ist "Die Stadt der Blume", "zahlreiche maritime und irdische Beschäftigungen sind dort möglich. Sie werden sich nicht langweilen ...", ach Gott, ja. Irdische Beschäftigungen. Und maritime. Sich nicht langweilen. Das wär’s. EdenFM, George, Südafrika hat nachts die Sendung Late Night Drive mit dem Love Doctor, "Hello!", fragt Lionel Richie anklagend, "is it me you’re looking for?"

Für Sie getestet: Brasilianische Radiosender spielen erstaunlich wenig Bossa nova, dafür haben alle Länder auf der Welt einen Ostbahn-Kurti oder einen Gabalier, zumindest klanglich. Die Reise wird schneller, die Bermudas, ich klicke kleine Radiosender auf noch kleineren Inseln an (Sint Maarten gehört immer noch zu den Niederlanden, das weiß ich jetzt), Puerto Rico, "No puedo vivir sin ti", singt jemand, das versteh ich noch, auf dem ergoogelten Cover von Sonora Ponceña ist ein Drache mit Unterhosenmann, rätselhaft das alles. Kritischer französischer Hip-Hop auf Port-auf-Prince, Haiti.

Die Werbung nimmt dank Internet leider Rücksicht darauf, wo mein Laptop im Netz hängt, und bewirbt mir einen Stromanbieter aus Oberösterreich, hören Sie, deshalb bin ich doch nicht grad in der DomRep! Sie!

Cockburn Town City Limits

Auf Radio Turks & Caicos gibt’s grad eine krachige Live-Einschaltung, Cockburn Town, was für ein Name, kleine weiße Häuser, türkises Meer, hier wuchert die Bougainvillea. Aha, und ein "Message in a Bottle"-Projekt gibt es dort auch mit Flaschenpost aus 40 Jahren. In Nassau auf den Bahamas spielt der religiöse Sender Inspiration eine Einschaltung der Regierung, Impfen lassen! Weil! Sagt das dortige männliche Pendant zum hiesigen Impf-Testimonial Waltraut Haas, im Anschluss gibt der Bischof Tipps zur Rettung der Ehe in der Pandemie (ohne Zorn streiten, dafür mit Respekt, nicht zu emotional werden, bitte, danke).

Ich kann es kaum glauben, ich lande bei Radio Santa Claus in Helsinki, Finnland, dort spielt man die ganze Zeit Weihnachtslieder, "Dear Santa, this year I have been a very good radio station", verspricht der Jingle.

Ich verlaufe mich noch kurz auf den Keys in Florida, auf dem Heimweg via Zakynthos singen die Hollies "All I need is the air that I breathe and to love you", offenbar gibt’s weit nach Mitternacht überall auf der Welt Liebeslieder, Perry Como will mit irgendwem heimgehen. Und ich bin wieder zu Hause. Vielleicht ist ja doch die ganze Welt Radio Wien.

(Julia Pühringer, 19.3.2021)