Stephanie Krisper, bei den Neos Sprecherin für Inneres, Asyl und Migration, kritisiert Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) erneut.

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Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) musste – wie berichtet – zuletzt eine gehörige Zahlendiskrepanz erklären: Während er behauptete, Österreich habe 2020 mehr als 5.000 unbegleiteten Minderjährigen Schutz gewährt, waren es schlussendlich nur 186. Der Innenminister gibt an, sich "versprochen" zu haben, er habe minderjährige Flüchtlinge gemeint, nicht nur die unbegleiteten. Nehammer betonte außerdem, dass Österreich bei den Asylanträgen unbegleiteter Minderjähriger an zweiter Stelle in der EU liege und Österreich einen großen Beitrag leiste.

Mehr als die Hälfte nicht im Asylverfahren

Die Neos-Abgeordnete Stephanie Krisper – durch die Beantwortung ihrer Anfrage wurde die Diskrepanz zwischen 5.000 und 186 deutlich – hinterfragt diese Aussage nun. "Ich frage mich, woher das Innenministerium diese Zahl hat." Bei Eurostat finde sie sie jedenfalls nicht, im Innenministerium wird hingegen angegeben, die Zahl genau von dort zu haben.

Auf der Eurostat-Seite finden sich noch keine Zahlen für 2020, nur für 2019. In dem Artikel heißt es, dass Österreich zu den Ländern mit den stärksten relativen Rückgängen bei Anträgen unbegleiteter Minderjähriger zählt. Bei einer Aufgliederung nach Alter liegt Österreich für die bis 18-Jährigen tatsächlich an der Spitze, hier sind aber wieder alle Kinder und Jugendlichen gemeint, nicht nur die unbegleiteten. Eine Aktualisierung des Artikels über unbegleitete minderjährige Flüchtlinge ist bei Eurostat für Sommer 2021 geplant.

Außerdem kritisiert Krisper, die bei den Neos Sprecherin für Inneres, Asyl und Migration ist, dass Nehammer weiterhin so tue, als seien die unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge eine große Belastung für Österreich. Denn von den 1.467 Antragstellungen, die es 2020 durch sie gegeben hat, bleiben nicht viele übrig, wie eine Berechnung der Asylkoordination auf Basis einer weiteren Anfrage durch die Neos-Abgeordnete zeigt: Letztendlich sind demnach nur 432 ins Asylverfahren gekommen, zwei wurden in andere EU-Länder überstellt. 265 wurden durch Untersuchungen für volljährig erklärt. Was mit dem Rest passiert ist, weiß niemand. Die Kinder und Jugendlichen – 764 an der Zahl – sind offenbar verschwunden.

Kritik an Nehammer

Krisper spart nicht mit Kritik, mittlerweile könne man sagen, "täglich grüßt die Falschmeldung vonseiten der Bundesregierung". Nachdem man "aufgedeckt" habe, dass nicht 5.000, sondern 186 unbegleitete Flüchtlinge in Österreich Schutz bekommen haben, komme wieder ein unrichtiges Gegenargument, sagt Krisper, nämlich dass Österreich EU-weit auf Platz zwei liege. "Abgesehen davon, dass es dazu noch keine Statistik auf Eurostat gibt und wir nicht wissen, woher der Innenminister die Zahlen für diese Behauptung nimmt, hat er vergessen zu erwähnen, dass über die Hälfte dieser Flüchtlinge verschwunden sind und Österreich daher für diese keine Leistungen mehr erbringt. Er muss doch von diesem beunruhigenden Phänomen des zahlreichen Verschwindens wissen. Alles andere wäre höchst fragwürdig und unprofessionell." Nehammer solle interessiert daran arbeiten lassen, den Verbleib der Kinder zu eruieren und "der Sorge Kinderhandel nachgehen", so die pinke Abgeordnete.

Verschwundene Kinder

"Wo diese minderjährigen Flüchtlinge hingekommen sind, interessiert niemanden", kritisiert auch Lisa Wolfsegger, Expertin für Kinderflüchtlinge bei der Asylkoordination. Die Tatsache, dass Kinder spurlos verschwinden, ohne dass sich jemand zuständig fühlt, zeigt laut der Organisation ein weiteres Problem auf: Bei abgängigen Kinderflüchtlingen müsste eine Meldung an den Obsorgeträger erfolgen, das räumt auch das Ministerium in der Anfragebeantwortung ein.

Es gibt allerdings keinen Obsorgeträger, weil die eigentlich zuständige Kinder- und Jugendhilfe (Baden bzw. Neunkirchen) sich weigert, die Obsorge für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge im Zulassungsverfahren zu übernehmen. So schließe sich der Kreis, argumentiert man bei der Asylkoordination: Um die verschwundenen Kinder kann oder muss sich mangels Zuständigkeit niemand kümmern. "Ob die Kinder in andere EU-Staaten weitergehen oder ob und wie viele Opfer von Menschenhandel geworden sind, darüber wissen wir nichts", kritisiert Wolfsegger eine "Politik des Wegschauens" der Behörden.

Innenministerium kann Zahlen "nicht nachvollziehen"

Seitens des Innenministeriums können sind die Zahlen – abgesehen von der Zahl der 1.467 Asylanträge – "nicht nachvollziehbar", wie es in einer Stellungnahme an den STANDARD heißt. Außerdem wird darauf hingewiesen, dass es sich bei den Statistiken des Innenministeriums nicht um keine Kohortenanalyse, sondern um statistische Abfragen in einem bestimmten Zeitraum handle. Das bedeute, dass zum Beispiel die Asylantragszahlen nicht mit anderen Zahlen (zum Beispiel mit Entscheidungszahlen) eines Jahres in Relation gesetzt werden können. Das haben Krisper und die Asylkoordination allerdings auch nicht gemacht.

Erster Schritt Richtung Datentransparenz

Herbert Langthaler von der Asylkoordination macht wiederholt darauf aufmerksam, dass es eigentlich die Aufgabe des Ministeriums wäre, diese Zahlen schwarz auf weiß zu liefern, nicht erst durch eine entsprechende Anfrage. Langthaler hofft, dass ein Transparenzpaket das Ministerium in Zukunft zwingt, hier anschauliche Daten zu veröffentlichen.

Ein erster Schritt in diese Richtung erfolgte am Dienstag: "Der Innenausschuss hat mit den Stimmen aller Parteien beschlossen, dass im Umgang mit der Asyl- und Fremdenrechtsstatistik Datentransparenz herzustellen und ehestmöglich die bestehende Praxis in der Veröffentlichung von Daten zu evaluieren ist", sagt Georg Bürstmayr, der bei den Grünen Sprecher für Asylpolitik ist. Geht es nach den Grünen, könnte es schnell gehen. "Wenn die Daten schon vorliegen, spricht nichts dagegen, sie auch zu veröffentlichen, auch jetzt schon. Man muss damit nicht warten, bis wir auch in Österreich die Informationsfreiheit hergestellt haben", sagt Bürstmayr. (Lara Hagen, 19.3.2021)