Mit dem letzten Stempel im Pass kommt die Euphorie, allerdings in überschaubaren Dosen. Zwar sind die Schuhe matschig, der Atem schnell, und der kalte Wind weht einem ins Gesicht. Aber man steht trotzdem gerade nicht oben auf dem Montblanc, sondern auf knapp 450 Metern Seehöhe in Wien-Ottakring, umgeben von Bäumen, Wiesen und einer Handvoll anderer Menschen, die an einem Montagnachmittag Zeit haben, einen der Wiener Stadtwanderwege zu gehen.

Seit den frühen 80er-Jahren bietet Wien eine Reihe institutionalisierter Wanderwege an. Gehen konnte man auf diesen Wegen mutmaßlich schon vorher, aber ohne Schilder und spezielle Karten. Gestartet wurde mit fünf, mittlerweile sind es 13 Stadtwanderwege, insgesamt knapp 145 Kilometer lang, die "durch die schönsten Landschaften Wiens und seiner Umgebung" führen, wie es vollmundig auf der Webseite der Stadt heißt. Aber stimmt das auch? Und was lernt man als typischer langjähriger Innenstadtbewohner noch über Wien, wenn man sie alle geht? Zeit, die Schuhe zu schnüren.

Stadtspaziergang

Der Begriff "Stadtwanderweg" ist, so ehrlich muss man gleich zu Beginn sein, ein wenig übertrieben. Menschen, die in ihrer Freizeit in den richtigen Schuhen auf richtige Berge gehen und dabei viele Höhenmeter oder große Distanzen überwinden, werden sie eher als das empfinden, was sie sind: Stadtspaziergänge. Es sind bis auf eine Ausnahme Rundwege, meist zwischen zehn und zwölf Kilometer lang und auch für untrainierte Stadtbewohner gehbar. Auch wenn manche – insbesondere der Stadtwanderweg 8 (Sophienalpe) und 2 (Hermannskogel) – einen ordentlichen Anstieg haben, der einen ins Schwitzen bringt.

Auch das ist Wien. Die Stadtwanderwege führen aber nicht nur in die Natur, sondern auch vorbei an Deponien.
Foto: Niko Ostermann

Ewiger Spaziergang

Die Pandemie hat den Menschen zu einem ewigen Spaziergang verdammt. Es bleibt einem ja auch kaum was übrig, zumindest legal. An der frischen Luft darf man Menschen treffen, solange sie nicht in zu vielen unterschiedlichen Haushalten wohnen. Und jetzt im Frühling kommt vermehrt die Sonne raus – und lockt auch Menschen, die sich dem Spaziertrend bislang entzogen haben, vor die Tür.

Mit Stand Mitte März haben die Stadtwanderwege den großen Minuspunkt, dass die Gasthäuser, bei denen eine Einkehr eigentlich fix zu einem Tagesausflug gehört, geschlossen sind. Dieses Schicksal teilen sie sich allerdings mit dem Rest des Landes außer Vorarlberg. Dafür haben sie einen Vorteil, den man modern vielleicht "Gamification" nennen würde: Es geht (auch) um die Stempel. Es gibt einen Wanderpass, den man sich ausdrucken oder im Rathaus abholen kann. Jeder Stadtwanderweg hat eine Stempelstelle, wo man besagten Weg abhaken kann. Bei drei Stempeln gibt es eine silberne, bei sieben eine goldene Wandernadel. Mit diesen Nadeln kann man jetzt nicht besonders viel anfangen, aber so ab Stempel vier ist man drin im Sammlermodus.

Ein Samstag im März. Der 39A bahnt sich seinen Weg durch Oberdöbling. Eine ältere Dame im Pelzmantel und Perlenohrringen stolziert elegant in den Bus, als wollte sie jedes Klischee des 19. Bezirks bestätigen. Die Endhaltestelle Sievering ist der Startpunkt des Stadtwanderwegs 2. Er beginnt mit einem kurzen Anstieg durch Weinberge, bevor er dann in den Wald eintaucht und zu Wiens höchstem natürlichen Punkt, dem Hermannskogel, führt.

Der volle Wanderpass. In dieser älteren Version fehlen die letzten beiden Wanderwege. Gegangen wurden sie trotzdem.
Foto: Niko Ostermann

Gemischtes Publikum

Das Publikum auf den Stadtwanderwegen ist gemischt. Man überholt Eltern mit Kinderwagen in Alltagskleidung und wird von professionellen Menschen in professioneller Funktionskleidung überholt. Solche Professionalität ist löblich, es wird auch auf der Webseite der Stadt dazu geraten. Unbedingt notwendig ist sie nicht. Für manche Wanderwege, insbesondere die im Wienerwald, ist festes Schuhwerk allerdings ein guter Tipp. Der Autor dieses Textes hat alle Stadtwanderwege in Sneakern absolviert und damit seinen Beitrag zur Verturnschuhung der Wandergesellschaft geleistet. Das war nur bedingt klug und führte insbesondere beim Abstieg vom Hermannskogel zu einer würdelosen Schlitterpartie, die nur durch ein Wunder nicht im Gatsch endete.

Die Stadtwanderwege rühmen sich damit, durch "herrliche Naturlandschaften" zu führen und Wanderer etwas über "Flora und Fauna" der Stadt zu lehren. Na ja. Es sind Wiesen, Wälder und Felder, da muss man die Kirche im Dorf lassen. Schilder machen einen regelmäßig darauf aufmerksam, dass hier irgendwo ein Spechtwurz wächst oder der Segelfalter ein Auskommen findet. Aber dass Bekannte, die man auf dem Stadtwanderweg 7 (Laaer Berg) trifft, von einem Feldhasen erzählen, den sie gerade gesehen haben, ist vielleicht sinnbildlich für die wilde Natur einer Knapp-zwei-Millionen-Stadt.

Wer sich in die Straßenbahn 31 setzt und die längere Fahrt die Brünner Straße entlang auf sich nimmt, landet irgendwann in Stammersdorf. Alle Stadtwanderwege sind öffentlich erreichbar, wobei "erreichbar" oft die Endstation bedeutet. Hier draußen ist Wien dörflich. An der Supermarktkassa werden Gespräche geführt, man kennt sich. Der Stadtwanderweg 5 (Bisamberg) führt vorbei an niedrigen Häusern, durch Weinberge und Kellergassen, vorbei am vermutlich besten Verkehrsschild der Welt ("Ziesel queren!"). Apropos Schilder: Die Ausstattung mit Wegweisern an den Wanderwegen ist von unterschiedlicher Qualität. Man verläuft sich kaum, aber an der ein oder anderen Kreuzung würde ein "Hier geht’s lang" schon noch guttun.

Es lohnt sich

Bisamberg, Nussberg, die Prater-Hauptallee – sie alle liegen irgendwo an einem der Wege, quasi wie einem Traum des Wiener Tourismusbüros entnommen. So romantisch ist es allerdings nicht überall. Die Stadtwanderwege führen genauso an der Deponie Rautenweg vorbei. Oder durch die Stadtlandwirtschaft am äußersten Rand Favoritens, wo Wien auch nur die Fortsetzung von Niederösterreich mit ähnlichen Mitteln ist. Ob das wirklich die "schönsten Landschaften Wiens und seiner Umgebung" sind, sei dahingestellt.

Aber so banal manche Stellen wirken mögen – es sind die Ecken, an denen man beim Gehen das Gefühl hat, etwas von Wien und Umgebung zu sehen, was man als Innenstadtbewohner sonst nie sehen würde. Die Stadtwanderwege im Wienerwald über Wilhelminenberg, Hamenau oder Greutberg sind schön, naturnah und postkartentauglich, werden aber irgendwann ein wenig eintönig. Der Ausblick über Wien ist beim ersten Mal atemberaubend, beim zweiten Mal beeindruckend, irgendwann nur noch nett. Da ist die Kleingartenanlage am Russwasser in der Donaustadt, wo bei den ersten Sonnenstrahlen die Menschen in Bademänteln herumlaufen und winzige Chihuahuas auf die Straße fetzen, schon spannender. Genauso wie das seltsame Ensemble an der Verlängerung der Breitenfurter Straße vor den Toren Wiens, bestehend aus Tennisplatz, Kläranlage und gestrandetem Zirkus. Und irgendwann erwischt man sich dabei, wie man auf einer Brücke über die Tangente steht und sich fragt, was man da eigentlich macht. Die Stadtwanderwege führen einen zu Orten in Wien, an die man normalerweise nicht kommt. Dafür gibt es allerdings oft auch Gründe.

Auf dem Weg nach Breitenfurt.
Foto: Niko Ostermann

Der kürzeste Wanderweg

Der Stadtwanderweg 7, der einen unter anderem über die Tangente führt, ist mit 15 Kilometern der längste. Er ist mit vier bis fünf Stunden Gehzeit ausgewiesen. Die Zeiten sind großzügig bemessen, für langsamere Wanderer und mit Pausen, für die es ohne Gastronomie weniger Grund gibt als mit. Mit entsprechender Fitness schafft man sie gut in knapp zwei Dritteln der Zeit. Der kürzeste ist der Stadtwanderweg 11 (Urbaner Gemeindebau-Wanderweg), der vier Kilometer am Gürtel entlang vom fünften in den zehnten Bezirk führt. Das fühlt sich weniger wie eine Wanderung an, sondern mehr, als müsste man nach einem Abend in einer Bar heim und hätte kein Geld mehr für ein Taxi.

Die Stadtwanderwege 1 (Kahlenberg) und 1a (Leopoldsberg) führen von Nussdorf aus auf den beliebten Ausflugsberg der Wiener. Es ist der logische Startpunkt für das Projekt "Stadtwanderwege". Für diesen Artikel waren sie unter den letzten, es hatte sich so ergeben. Der 1a führt über den steilen Nasenweg auf den Leopoldsberg, mit jeder Stufe wird der Blick auf die Donau besser. Der Anstieg für den Stadtwanderweg 1 an der anderen Seite ist flacher, dauert aber dementsprechend länger. Oben auf dem Kahlenberg stehen sich die Touristen und die Wiener auf Tagesausflug schon wieder auf den Füßen beziehungsweise in Schlangen vor den Gastronomiebetrieben. Ältere Männer fahren ihre Oldtimer-Cabrios auf der Höhenstraße spazieren, wozu hat man so was auch sonst.

Ein wenig Muskelkater

Der Abstieg über die Weinberge des Nussbergs gibt ausreichend Zeit, über die Ausgangsfrage nachzudenken: Was lernt der durchschnittliche Innenstadt-Bobo über Wien, wenn er alle Wanderwege geht? Ehrlicherweise nicht so viel. Wien ist deutlich mehr als die Gründerzeit-Bauten, das ist aber eine wenig spektakuläre Erkenntnis. Und doch lohnen sich die Stadtwanderwege, nicht nur wegen der Bewegung an der frischen Luft. Sie führen den Wanderer an schöne Stellen, an die man zufällig kaum kommt – wie zum Schwarzenbergpark in Hernals oder zur Eichwiese in Liesing. An den Strecken liegen einige "Instagram-Hotspots" (wie der Blick vom Berg Zwei Gehängte nach Niederösterreich oder die Wotruba-Kirche) und Architektur, die man nur in Randbezirken findet. Und im schlimmsten Fall bringt man damit mal einen langweiligen Sonntag rum. Das ist in Zeiten wie diesen auch nicht nichts.

Die Euphorie, die mit dem letzten Stempel im Pass kommt, verebbt schnell wieder. Was bleibt, ist ein wenig Muskelkater – und das Gefühl, ein Projekt abgeschlossen zu haben. Es ist ein gutes Gefühl. Aber vielleicht kommt dann ja bald mal wieder eine Zeit, in der man nicht dauernd spazieren gehen muss – beziehungsweise nur dann, wenn man wirklich will.(Jonas Vogt, 20.3.2021)