Der milde israelische Frühling und das konsequente Impfprogramm machen es möglich: In Tel Avivs Gastgärten wird wieder geschlemmt und getrunken.

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Rote Sauce tropft aus dem Pitasandwich. Yael hält es ihrer Kollegin Avital hin, doch die verzieht den Mund. "Es reicht", sagt Avital. "Komm schon, beiß ab", sagt Yael, "wir müssen essen, damit wir trinken können!"

Die beiden Mittdreißigerinnen stehen im Gedränge des Tel Aviver Karmelmarkts. Sie sind mit der Abteilung ihres Softwareunternehmens hier, lassen sich von einem Tourguide durch den Markt schleusen. Ein Kostprobenmarathon auf Firmenkosten, kurz bevor sich das Unternehmen in die Feiertage verabschiedet. Jedes Jahr vor dem Pessachfest gibt es gemeinsamen Spaß auf Firmenkosten. Zumindest fast jedes Jahr. Letztes Jahr saßen alle zu Hause vor ihren Bildschirmen, prosteten den anderen via Zoom zu. Das ist jetzt vorbei. "Los, weiter geht‘s!", ruft der Tourguide. Yael und Avital folgen ihm, verschwinden im Gedränge.

Der Karmelmarkt im Zentrum Tel Avivs ist zu normalen Zeiten ein Touristenmagnet. Händler bieten hier dieselbe Ware wie andernorts an, nur aufpoliert und aufgepreist. Neben Fruchtshakes aus Guave und Avocado bieten sie T-Shirts mit fettgedruckten Sprüchen feil. Das alles gibt es auch jetzt. Nur das Fehlen der sonnenbrandroten Nasen verrät, dass es keine Urlauber sind, die sich durch die engen Gassen schlängeln, sondern Einheimische.

Corona-Stationen schließen

Die Gastgärten sind voll, wer keinen Platz in der Sonne findet, nimmt drinnen Platz. Seit ein paar Wochen ist das in Israel möglich, das Gesetz öffnete Bars, Hotels, Restaurants und Clubs zuerst für Grünpass-Besitzer. Den grünen Pass erhalten alle, die schon das Coronavirus hatten oder deren zweite Teilimpfung mehr als sieben Tage zurückliegt. Das trifft in Israel bereits auf knapp die Hälfte der Bevölkerung zu.

Auch unter den Jüngeren schreitet die Immunisierung voran: Siebzig Prozent der 20- bis 29-Jährigen und 75 Prozent der 30- bis 39-Jährigen haben zumindest eine Teilimpfung. Das Durchimpfen macht sich bezahlt: Zwei Spitäler in Tel Aviv haben ihre Corona-Abteilungen geschlossen. Auf der Landkarte muss man die laut Ampelschema roten Gemeinden mittlerweile suchen – sogar die einstigen Hotspots wie die Ultraorthodoxenhochburg Bnei Brak sind nun grün.

"Auf das erste Mal Essen gehen hab ich mich schon gefreut", sagt Lee, die mit Freundin Anna in einem kleinen Café sitzt. "Aber oft kann ich mir das nicht mehr leisten." Im ersten Lockdown setzte ihr Chef sie auf Kurzarbeit, ohne Lohnausgleich.

Angepasstes Sozialleben

Dabei hatte sie noch Glück, anders als viele im Freundeskreis war sie wenigstens nicht arbeitslos. "Mir war es ganz recht, dass es keine Partys gab", stöhnt Anna. "Jetzt geht das wieder los, und ich muss mich rechtfertigen, warum ich nicht ausgehen will."

Der Pegel an Sozialleben, den die Pandemie erlaubte, war genau nach ihrem Geschmack, sagt Anna: "Die Freunde, die ich sehen wollte, hab ich im Freien getroffen. Mir hat nichts gefehlt."

Der grüne Pass wird am Eingang zu Gastronomie-, Kultur- oder Sportbetrieben kontrolliert. Zumindest in der Theorie ist das so. In der Praxis marschieren die Leute in vielen Lokalen aus und ein, ohne dass jemand nach der Impfung fragt. Strenger sind die Sportvereine und Fitnessstudios, aber auch hier wird getrickst. "Zutritt nur mit grünem Pass", mahnt das Schild beim Eingang zu einem Boulderzentrum, doch an der Kassa im Inneren beruhigt die Angestellte: "Wenn du bei uns Mitglied wirst, sparst du dir die Impfung."

Probleme mit Kontrollen

Alena, Managerin einer beliebten Bar im Süden Tel Avivs, stapelt die Barstühle, um den Boden zu wischen. Der Abendbetrieb geht in ein paar Stunden los, es gibt viel zu tun. "Wir sind jeden Abend ausgebucht", sagt sie, "die Leute sind richtig ausgehungert nach Ausgehen." Das Fehlen der Touristen spürt sie nicht, sagt Alena. "Die vielen Israelis, die im Land feststecken, machen das wieder wett." Wobei sie das Lokal noch nicht im Vollbetrieb führt: Nur der Außenbereich ist geöffnet. "Ich vertraue dem grünen Pass noch nicht", sagt Alena. Es sei mühsam, alle Gäste zu kontrollieren. Die Sorge, dass jemand unkontrolliert durchschlüpft oder beim Eingang einen gefälschten Impfpass herzeigt, sei zu groß. "Wir warten noch ab", sagt Alena.

Eyal reißt einen großen Karton auf, vollgestopft mit Stoffballen in allen Schattierungen von Weiß bis Cremefarbe, mit Glitzer und ohne. Er steht in seinem Geschäft in einer Einkaufsstraße Tel Avivs, umgeben von Dutzenden von Paketen, die darauf warten, geöffnet zu werden. Sein Stoffhandel beliefert Brautmodenschneider. "Langsam geht es wieder los mit den Hochzeiten", sagt er. Bis seine Kassen wieder saniert sind, werde aber noch viel Zeit vergehen, meint der 56-Jährige. Von Flügen zu seinen europäischen Lieferanten hält er sich noch fern. "Europa ist ja noch voll mit dem Virus, ich habe keine Lust, mir dort etwas einzufangen", sagt er. "Impfung hin oder her – das ist mir zu heikel." (Maria Sterkl aus Tel Aviv, 22.3.2021)