Es ist an der Zeit, die politische Erweiterungsagenda wieder voranzutreiben, sagen ÖGfE-Generalsekretär Paul Schmidt und der Politologe Vedran Džihic im Gastkommentar.

Die Corona-Pandemie hinterlässt auch in den Ländern des Westbalkans tiefe Spuren. Sie verschärft deren Probleme und entlarvt institutionelle Schwächen, insbesondere im Gesundheitswesen und in der Sozialpolitik. Gleichzeitig ist die große positive Wirkung des EU-Erweiterungsprozesses in den letzten Jahren eher überschaubar: Reformbestrebungen stagnieren, und Rechtsstaatlichkeit verliert in einigen Ländern weiter an Boden.

Die Corona-Krise verschärft institutionelle Schwächen in den Westbalkan-Ländern und verstärkt geopolitische Spannungen.
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Die Gesundheitskrise verstärkt das geopolitische Spannungsfeld in der Region. Der Wettbewerb um dringend notwendige Impfdosen erhöht den Einfluss Chinas, aber auch Russlands und der Vereinigten Arabischen Emirate. Die EU ist schon lange nicht mehr der einzige potenzielle Partner, der seine Unterstützung anbietet. Andere Akteure mit mehr als zweifelhaftem demokratischem Track-Record missbrauchen den Westbalkan für Interessenpolitik und stehen der Entwicklung der europäischen Vision eines demokratischen Balkans entgegen.

Geopolitischer Realismus

Nach einer langen Durststrecke in der EU-Erweiterung wäre es daher gerade jetzt an der Zeit, vom Reden ins Handeln zu kommen und die politische Erweiterungsagenda wieder voranzutreiben. Die Europäisierung der eigenen Nachbarschaft muss an politischem Stellenwert gewinnen und mit einer substanziellen Finanzierung einhergehen. Die jüngste Reform der Erweiterungspolitik beinhaltet einige neue Ansätze und Mechanismen, sie reicht aber noch nicht aus, um den Ländern der Region die Sorge vor einem permanenten Ausschluss aus dem europäischen Integrationsprojekt zu nehmen. Nimmt man die vielfältige Krisenlage in den potenziellen EU-Beitrittsländern ernst, müssen insbesondere die Investitionspläne für die Region ambitionierter ausfallen und rascher umgesetzt werden.

"Es reicht nicht, die europäische Lebensart verteidigen zu wollen."

Parallel dazu braucht es eine interne Erneuerung der EU. Ohne konsolidierte Strukturen und eine verbesserte Funktionsweise wird die Aufnahmefähigkeit der Union auch in den nächsten zehn Jahren nicht vorhanden sein, was das negative Szenario einer Verschiebung der etwaigen Erweiterung auf den Sankt-Nimmerleins-Tag nur wahrscheinlicher macht. Die EU darf sich aber nicht ausschließlich der Nabelschau widmen und vor wachsenden Herausforderungen in nächster Nachbarschaft die Augen verschließen.

Etwas mehr pragmatischer Optimismus und geopolitischer Realismus würden schon helfen, die Negativspirale aus Corona-, Reform- und Erweiterungsmüdigkeit zu durchbrechen. Eine EU als globaler Akteur mit einer geopolitischen EU-Kommission im Zentrum des Geschehens wäre die notwendige Grundlage für einen erfolgreichen Export europäischer Werte. Es reicht eben nicht, die europäische Lebensart verteidigen zu wollen. Sie muss vielmehr inspirieren und mit demokratischen Werten und Errungenschaften überzeugen.

Checks and Balances

Der Westbalkan leidet unter tiefgreifenden Strukturproblemen und fragilen Demokratien. In der Pandemie wird das ohnehin schon gescholtene System der Checks and Balances weiter ausgehöhlt, werden Parlamente zur Seite gedrängt und die Gerichtsbarkeit geschwächt. In der Krise scheinen Transparenz, Rechenschaftspflicht und politische Verantwortlichkeit politischer Eliten zu Fremdwörtern zu verkommen.

Vor diesem Hintergrund wäre die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit das Gebot der Stunde. Umso mehr als Populismus, Polarisierung und autoritäre Tendenzen nicht nur in Teilen Europas, sondern weltweit auf dem Vormarsch sind. Sobald die Scheinwerferlichter erlöschen, verabschieden sich so manche Politiker von demokratischen Regeln und tragen mit Klientelpolitik zur Spaltung der Gesellschaft bei. Der Erweiterungsprozess hat zu lange auf nationale und regionale Eliten auf dem Westbalkan sowie deren leere Versprechen gesetzt. Gerade hier braucht es neue Ansätze, um den gesellschaftlichen Wandel tatsächlich vorantreiben zu können.

Eine massive Ausweitung von bereits bestehenden EU-Programmen etwa in den Bereichen Mobilität, visafreies Reisen, Zivilgesellschaft und freie Medien sowie die kreative Entwicklung neuer Ebenen der Kooperation mit demokratischen emanzipatorischen zivilen Kräften auf dem Balkan wären hier wichtige Schritte.

Neue Stimmen

Die nächsten Jahre werden für die demokratische und europäische Zukunft des Westbalkans entscheidend sein. Neben einer glaubhaften Erweiterungsperspektive braucht es eine unmittelbare Unterstützung der Rechtsstaatlichkeit, des Dialogs mit der Zivilgesellschaft, des Pluralismus sowie soziale Gerechtigkeit und eine erfolgreichere Bekämpfung von Korruption. Der Regierungswechsel in Montenegro hinterlässt viele Fragen im Hinblick auf die politische Stoßrichtung der neuen Regierung.

Bei der Wahl im Kosovo wiederum gaben gerade die junge Generation und Frauen Albin Kurti und Vjosa Osmani ihre Stimme in der Hoffnung, dass Versprechen letztlich auch umgesetzt werden. In anderen Teilen der Region mobilisieren progressive und emanzipatorische Bewegungen für eine gerechtere, demokratischere Gesellschaft und geben täglich Zeugnis für das Potenzial zivilgesellschaftlichen Engagements ab.

Diese alternativen Bewegungen sind die Triebfeder gesellschaftlicher Transformationen auf dem Westbalkan. Ihre Stimme zu hören und verstärktes Augenmerk auf die soziale sowie zivile Entwicklung der Region zu richten ist dringend notwendig. Ein erneuerter Erweiterungsprozess und ein ehrlicher Einsatz für eine europäische Zukunft der Region gelingt nur über vertrauensbildende Maßnahmen und die Mobilisierung der Bürgerinnen und Bürger in der Region. Nicht nur der Westbalkan, sondern ganz Europa könnte in diesen Krisenzeiten Fairness, Perspektiven und verstärktes politisches Engagement gut gebrauchen. (Paul Schmidt, Vedran Džihić, 22.3.2021)