In den 1980ern war Wien ein düsteres Häusermeer, und doch waren die grauen Fassaden, die eigenartigen Geschäfte, die dunklen Durchhäuser und das flackernde Neonlicht auf ihre Weise magisch. Und an manchen Stellen der Stadt war die Zeit unaufmerksam, ist Wien geblieben, wie es vor 40 Jahren war. Der Autor und Fotograf Harald A. Jahn machte sich auf die Suche nach Spuren von der Stadt, die wir noch vage in Erinnerung haben und die sich an manchen Stellen überraschend wenig verändert hat.

Die entstandenen Bilder aus Jahns Archiv, der seit den frühen 1980er-Jahren die seltsamen Seiten der Stadt porträtiert, hat er in seinem aktuellen Buch "Randschaften" zusammengefasst. Wir haben ihn gebeten, zehn Fotos auszuwählen.

Am Donaukanal

Wien hat seinen Flüssen immer den Rücken zugekehrt, erst in den letzten Jahrzehnten hat die Stadt die Ufer entdeckt. Wienfluss und Donaukanal wurden als technische Bauwerke wahrgenommen, die Donau als Umschlagplatz für Fracht und seltsame Geschäfte, die irgendwie mit dem Ostblock zu tun hatten, so genau wusste man das nicht und wollte es auch nicht wissen. Der Donaukanal war ein einsamer Spazierweg – Lokale gab es nicht, auch keine Graffitis, der Vorkai eingeklemmt zwischen lauten Straßen, die erst überwunden werden mussten, um die Stiegen zu erreichen.

Foto: Harald A. Jahn

Schuster Schrey

Eigentlich ist Herr Schrey längst in Pension, aber die Kundschaft möchte partout nicht auf seine Arbeit verzichten. Ans Aufhören denkt er nicht, und so kommen weiterhin Kunden in dichter Folge. Auch wenn er seit den 1980ern keine Maßschuhe mehr näht – ein Loch im Schuh wird sofort geschlossen, während der Auftraggeber auf einem Bein stehend mit dem Meister plaudert.

Er kann aber auch zornig werden, wie letzthin, als ein Kunde nach ein paar Tagen mit einer angeblichen Reklamation kommt – und Herr Schrey erkennt, dass es zwar dasselbe Modell wie letzte Woche ist, der Absatz aber gar nicht von ihm repariert wurde. "Dem hab ich gesagt, dass ich ihn durch die geschlossene Tür rauswatsch, wenn er mir so deppert kommt!" – man nimmt es dem hochgewachsenen 82-Jährigen ab.

Foto: Harald A. Jahn

Durchhäuser

Die alten Durchhäuser waren in den 1980ern dunkle, mysteriöse Höhlen, verfallene Schluchten im Häusergebirge voller seltsamer Gewerbebetriebe: Im Raimundhof hat mich das Schild mit der rätselhaft-philosophischen Aufschrift "in wenigen Minuten endlos" jedes Mal fasziniert (es ging um Maschinentreibriemen, die hier sorgfältig vernäht wurden).

Heute sind die Durchgänge liebevoll renoviert, haben aber fast alles von ihrer Magie verloren, die Handwerker verschwanden spurlos und wurden meist durch coole Lokale und Modeboutiquen ersetzt.

Foto: Harald A. Jahn

Lederwaren Jentsch

Im Film "Aus der Zeit" sagt Frau Jentsch: "Ich bin hier wie ein Soldat, der auf eine Ablöse wartet, die nie kommt. Wenn ich hier bin, habe ich das Gefühl, das Geschäft hat nie begonnen und hört nie auf – man ist in der Hand der Zeit, und die hält irgendwie den Kurs. Das Geschäft selber ist die Zeit, sie ist hier anders, stabiler als an anderen Orten."

Tatsächlich konnte Frau Jentsch vor einigen Jahren "abrüsten"; auch wenn das Geschäft "nie aufhört", verließ Frau Jentsch die Kommandobrücke, und ihr Sohn übernahm. Benedikt Jentsch ist hauptberuflich Architekt, seine Arbeit ist nun das Fundament für die Fortsetzung der ewigen Gegenwart.

Foto: Harald A. Jahn

Der Messepalast

In zentraler Lage, zwischen Mariahilfer Straße und den Museen, war früher eine blinde Stelle im Stadtgefüge: der "Messepalast". Wo heute das Kulturleben brodelt, lag seinerzeit ein ganzes Stadtviertel im Dämmerschlaf, nur selten durch Großveranstaltungen unterbrochen. Betrat man den Komplex, hatte man immer so etwas wie ein schlechtes Gewissen, da man hier eigentlich nichts zu suchen hatte; die Hallen standen leer, Handwerksbetriebe gingen undurchschaubaren Tätigkeiten nach.

Foto: Harald A. Jahn

Platzers Spezialgipse

Es ist eine dieser seltsamen Branchen, von denen man nicht ahnt, dass sie in Wien – oder überhaupt! – existieren. In Hernals wird Gips verkauft, nicht irgendwelcher, sondern Spezialmischungen mit besonderen Eigenschaften: schnell abbindend, extra hart oder durchgefärbt, und es gibt sogar Gips mit Erdbeergeschmack – für Zahnabformungen!

Foto: Harald A. Jahn

Verschwundene Gassen

Weitgehend unbemerkt verschwand mit dem Bau der U6 ein kleines Meidlinger Stadtviertel. Diese Häuserblocks lagen in einem eigenartigen Zwickel zwischen verschiedenen stark befahrenen Verkehrslinien, ihr Rückgrat war die Viaduktstrecke der alten Stadtbahn. Im Grunde waren die abgewohnten Häuser nichts Besonderes – die "Dunklergasse" und die anschließenden Häuser, Gassen und Höfe waren aber ein eigenartiges Konglomerat, in dem sich ein typisches Stück Wien verdichtete: ein heruntergekommener Ballsaal, ein Stundenhotel, Werkstätten, Hinterhöfe – immer im Schatten der monolythischen Viadukte, immer begleitet vom regelmäßigen Donnern der Züge auf den alten Stahlbrücken.

Foto: Harald A. Jahn

Der letzte Brandineser in Kaisermühlen

Das "Tschocherl" in den Blocks jenseits der Donau hat eine typische Familiengeschichte über drei Generationen: Die Großeltern haben 1949 aufgesperrt, bei der Einrichtung hat sich seither wenig verändert. An der Wand hängen die "Kronenzeitung" von 1999 – neun Schilling! –, ein Schwarzweißbild des Fußball-Wunderteams von 1932 und die polizeiliche Vorschreibung von 1922, die die Verabreichung von Alkohol an augenscheinlich angeheiterte Personen untersagt; das freie Ausspucken ist sowieso verboten.

Heute ist das winzige Lokal zwischen 6 und 19 Uhr Wohnzimmer für die Arbeiter der Umgebung, und manche der erzählten Geschichten über Ehe, Arbeitslosigkeit oder Kuraufenthalt wären ohne Alkohol wahrscheinlich anders verlaufen; vorgetragen werden sie in diesem aussterbenden echten Wienerisch, das man nur in der Schule des Lebens lernt.

Foto: Harald A. Jahn

Neonlicht

Das bunte Neonlicht wurde meist durch Plexiglasbuchstaben ersetzt, trotzdem ist die Sehnsucht nach den strahlenden Schriftzügen nie verschwunden: Sie sind Inbegriff der Großstadtromantik, lassen Roadmovie-Szenen magisch erglühen und begleiten einsame Draufgänger durch die regennasse Nacht.

Foto: Harald A. Jahn

Abschied von der stillen Stadt

Ausgerechnet als dieses Buch entstand, kehrte die Stimmung der 1980er zurück: Im Lockdown wurde die Stadt still. Als noch nicht an jeder Ecke ein Fastfood-Stand lockte, schmierte man sich ein Butterbrot und setzte sich in den Park; auf der Bank las man ein Buch, man hatte ja Zeit.

Und so war es auch jetzt: die Wohngegenden wieder große, leise Inseln, Autos nur zu hören, wenn man den Hauptstraßen zu nahe kam. Die Attraktionen des Wurstelpraters wurden zu bizarren Kulissen. Wien war endlich wieder Stadt für Flaneure, sonst zu laut und zu gedrängt für zielloses Streunen. Es war teuer erkauft, wird aber als wertvolle Erinnerung bleiben. (Markus Böhm, 22.3.2021)

Foto: Harald A. Jahn

"Randschaften – Auf der Suche nach dem Wien unserer Kindheit" erschien im Februar 2021 im Phoibos-Verlag. Text & Fotos: Harald A. Jahn, 256 Seiten, € 34,90 www.phoibos.at

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Foto: Harald A. Jahn