Das Odéon in Paris ist seit einer Weile besetzt: Aktivisten fordern die Öffnung von Kulturstätten und finanzielle Unterstützung.

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Paris – Man erinnert sich an würdige Namen für ein legendäres Theater, an dessen Säulenfassade so einige Geschichtsereignisse vorbeigezogen sind: Im Odéon begann vor über 150 Jahren die Schauspielerin Sarah Bernhardt; 1870, als Paris von den Preußen besetzt war, richtete sie dort eigenhändig ein Feldlazarett ein. Ein Jahr später spielte sich der Aufstand der Pariser Kommune auch vor dem Theater ab, und ein Jahrhundert später? Im Mai 1968 wurde das Odéon-Theater zum Schauplatz der Revolte, als Regisseur Jean-Louis Barrault den Studenten Zugang zum Theater verschaffte.

Jetzt abermals also ein Geschichtsereignis – und das Odéon ist wieder besetzt. "Gib uns die Kunst zurück, Jean", wendet man sich mit einem Transparent an Premierminister Jean Castex, der die Kulturstätten des Landes geschlossen hält. "Was das Volk erhalten hat, hat es sich noch immer genommen", lautet ein anderer Spruch, flankiert von einer roten Fahne mit dem Zeichen der einstmals kommunistischen Gewerkschaft CGT.

Im Inneren des Odéon schlafen 40 Besetzer seit Anfang März auf Luftmatratzen. Tagsüber stellen sie Videos von Jamsessions ins Netz oder von einem Mann, der auf dem Theaterdach Shakespeare-Sonette in den Pariser Himmel rezitiert. Das Echo trägt weit: Nach dem Odéon werden nach und nach Theaterhäuser in Marseille, Straßburg, Rennes, Toulouse oder Bordeaux besetzt. Mittlerweile sind es schon an die 60.

Überbrückung verlangt

Was die Besetzer wollen? Jean-Paul, Schlagzeuger und Musikproduzent, zählt auf: "Wir verlangen, dass die Theater wieder geöffnet werden. Bis dahin müssen die Überbrückungshilfen für Kulturvermittler über diesen August hinaus verlängert werden." Man verlange zudem "eine korrekte Krankenversicherung und den Verzicht auf Emmanuel Macrons Reform der Arbeitslosenversicherung".

Jetzt muss Jean-Paul tief Luft holen hinter dem Gittertor, das ihn von den Außenstehenden trennt. Die Besetzer sind nämlich im Theater eingeschlossen. Mit Journalisten können sie nur durch ein Seitentor mit daumendicken Gitterstäben sprechen. "Und wir wollen auch", bricht es dann aus dem Musiker hervor, "dass diese verdammte Scheiße endlich aufhört!" Die Pandemie darf sich angesprochen fühlen, und Filmemacherin Valérie übernimmt: Das "weiße Jahr" ("année blanche", französischer Ausdruck für "leeres Jahr") mit geschlossenen Kinos, Theatern und Opern stürze den Kultursektor ins Elend. "Psychisches Elend", präzisiert die resolute Frau in Schwarz.

"Eine Art kultureller Klassenkampf"

Betroffen seien ihr zufolge vor allem die "intermittents du spectacle", die freischaffenden Darsteller wie auch Techniker, Kostümbildner und andere Kultur ermöglichende Berufe. Nur die großen Kulturhäuser unterhalten feste Ensembles; daher sind die meisten Bühnenkünstler freischaffend. Wenn sie 507 Arbeitsstunden im Jahr nachweisen können, erhalten sie eine – durchaus korrekte – staatliche Versicherung. In der Covid-Zeit zahlt sie die Regierung bis August fort. "Und dann?", fragt Valérie durch die Gitterstäbe und antwortet gleich selbst: "Dann ist Schluss!"

Plötzlich ruft eine Stimme aus dem Theaterinneren: "Val, die Direktion will uns sprechen!" Die Regisseurin erzählt, dass die Besetzer ein gespanntes Verhältnis zu den Odéon-Leuten hätten. "Die Covid-Krise hat auch den Graben zwischen den gutgestellten festen Ensembles und uns Freischaffenden vertieft", meint Valérie, um sich mit den Worten zu verabschieden, es sei dies "eine Art kultureller Klassenkampf".

Sehr politisch tönt es auch auf dem halbrunden Platz vor dem Theater. Es ist 14 Uhr, Zeit für die tägliche "Agora", die Versammlung der Besetzungssympathisanten. Heute ist eine vierköpfige Delegation der Gelbwesten aus dem Vorort Montreuil gekommen. Die Rentnerin Monique ruft denn auch zum Schulterschluss aller "Prekären" auf, aller Schauspieler und Studenten, Kellnerinnen und Krankenschwestern und natürlich auch der Gelbwesten.

Hommage an die Pariser Kommune

Sie alle seien von der Covid-Krise und Macrons neoliberaler Politik sehr direkt betroffen. "Wir kleinen Leute müssen aufstehen wie die Kommunarden 1871", sagt Monique, auf deren Neonweste in großen Lettern "Je suis Louise Michel" steht. Das ist eine Hommage an die Volksheldin der Pariser Kommune, deren 150. Jahrestag in Frankreich gerade gefeiert wird.

Teil der Hundertschaft applaudierender Sympathisanten ist Brice, Tubaspieler und freischaffender "intermittent". Der junge Mann mit den schwarzlackierten Fingernägeln sagt, er verliere monatlich "bis zu 50 Prozent" seines Einkommens. Andere seien allerdings noch viel schlimmer dran, sogar in den großen Kulturstätten. Das Odéon-Ensemble probe weiter, obwohl niemand wisse, wann das Theater jemals wieder seine Pforten öffnen könne.

Odéon-Direktor Stéphane Braunschweig hält in einem Kommuniqué ebenfalls fest, die Kultur-Freelancer seien "längst nicht die einzigen Leidtragenden der Krise". In dem Bemühen, das Gleichgewicht zwischen Solidarität und Abgrenzung zu wahren, appelliert er, die Kultur-Freelancer "nicht am Straßenrand zurückzulassen". Zuvor hatte er das langerwartete Stück "Ciel de Nantes" von Christophe Honoré auf eine spätere Spielzeit verschoben.

Ähnlich getroffen ist der gesamte Kultursektor Frankreichs. Und die Aussichten bleiben düster. Statt einer wirtschaftlichen und kulturellen Öffnung hat die Regierung in Paris am Freitag einen weiteren Lockdown für "mindestens einen Monat" verfügt. Das schreckliche "weiße Jahr" der Kultur geht derzeit nahtlos in ein zweites über. (Stefan Brändle aus Paris, 23.3.2021)